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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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zart unter den federnden Schritten des Mageren. Seine beiden Kollegen folgten ihm im Abstand eines Meters. Eine füllige Frau in den vorderen Reihen tat ihre Empörung kund. Die Tschugeister blieben ihr jede Antwort schuldig. Ywha bemerkte, wie sich die Fahrgäste, an denen das Dreiergespann bereits vorbeigegangen war, entspannten und sogar zu scherzen anfingen. Ywhas Nachbarin, die Frau in dem dicken Pullover, tauchte bis zum Scheitel in ihren Kragen ab.
    Der Magere blieb vor Ywha stehen. Als ringe sie sich zu einer widerlichen, jedoch unabdingbaren medizinischen Prozedur durch, überwand sich Ywha und hob den Blick. Sobald der Tschugeist ihren gehetzten Blick auffing, beugte er sich gierig vor. Seine Augen glitten über Ywha hinweg und sondierten einen zwar unsichtbaren, doch eindeutig spürbaren Abgrund, ließen dann jedoch auf halbem Weg enttäuscht von ihr ab, als sei sie lediglich ein alter Kleidersack.
    »Hexe«, formten die Lippen des Mageren das Urteil. Genauer gesagt, sie wollten das Wort gerade aussprechen, als ein Schrei den beengten Innenraum des Busses durchriss.
    Die Frau in dem warmen Pullover, die neben Ywha saß, schrie auf, und ihre Stimme bohrte sich wie ein Spieß in jedes Ohr. Als Ywha von ihr abrückte, wäre sie beinah auf dem knochigen Mann gelandet.
    Das blutleere Gesicht, das schließlich aus dem grauen Kragen aufstieg, war in Panik verzerrt. Die abgezehrten Hände, die die Frau zu verbergen suchte, erinnerten an Vogelkrallen. »N… nein … Ne… «
    Die beiden Tschugeister, die hinter dem Rücken des Mageren hervortraten, zogen die Frau, die sich sträubte, bereits zur Tür. Durch den gesamten, vom Geschrei paralysierten Bus kroch den dreien ein Flüstern hinterher: eine Njawka … eine Njawka … eine Untote … eine Njawka …
    Der Magere zögerte noch. Wieder belinste er Ywha. Er fuhr sich mit dem Finger über die Lippe, als fege er einen dort sitzenden Krümel weg. In Gedanken versunken stand er – bis er sich endlich in Richtung Ausgang bewegte. Eine Njawka … hier … im Bus … eine Njawka, murmelten die erregten, leicht heiseren Stimmen.
    An der Tür drehte sich der Tschugeist noch einmal um. »Unser Dienst dankt allen Fahrgästen für die engagierte Mithilfe, die uns bei der Festnahme eines besonders gefährlichen Individuums des Typus Njawka gewährt wurde. Angenehme Weiterfahrt …«
    Da Ywha seinem Blick nicht noch einmal begegnen wollte, wandte sie den Kopf und schaute zum Fenster hinaus.
    Die, die eben noch neben ihr gesessen hatte, kreischte ununterbrochen, nur büßte ihr Schrei immer mehr an Volumen ein, und schließlich erstickte ihn die dicke Scheibe des Busses vollends. Die Njawka hockte auf Knien am Straßenrand, vor ihren erstaunlich großen Augen hing ein Schleier des Entsetzens. Ein paar Mal riss sie den Mund weit auf. Ywha glaubte die Worte eines zusammenhanglosen Gebets zu hören, die dem Mund zusammen mit dem Schrei entschlüpften.
    Der Magere und seine beiden Kollegen bauten sich langsam um die Njawka herum auf, die sie zum Zentrum eines gleichseitigen Dreiecks machten. Ihre seitlich ausgestreckten Arme berührten sich flüchtig, als wollten die Tschugeister einen Reigen um ihr Opfer vollführen. Die Njawka schrie mit neuer Kraft los. In diesem Augenblick fuhr der Bus an.
    Die Bäume und die schrägen Dächer in der Ferne zogen an den Fenstern vorbei. Erst ein paar Minuten später begriff Ywha, dass sie mit all ihrem Gewicht auf dem knochigen Mann lastete, der sich jedoch nicht getraut hatte, sie einfach wegzuschieben.
    Im Bus fingen alle zugleich zu sprechen an. Ein Kind weinte. Jemand fand für seine Eindrücke lauthals die unanständigsten Worte, ein anderer kicherte, ein Dritter lachte fröhlich. Die meisten zeigten sich jedoch empört, behaupteten, die Njawken nähmen überhand und der Tschugeister-Dienst komme mit dem Fangen nicht nach. Außerdem sei es unmoralisch, Njawken an öffentlichen Orten zu erledigen, da könne man ja gleich einen streunenden Hund auf einem Kinderspielplatz erschießen. Obendrein lege die Regierung die Hände in den Schoß, während die Steuergelder im Nichts versandeten und die Stadt allmählich zum Spielball des Bösen werde. Erst die Njawken, dann die Hexen …
    »Tut mir leid«, entschuldigte sich Ywha bei dem Mann, der neben ihr saß. Dieser lächelte bloß einfältig.
    Der Sitz rechts von Ywha blieb leer. Über ihm zitterte eine sorgfältig in der Gepäckablage verstaute Plastiktüte. Ihre Besitzerin dürfte inzwischen

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