Das Jahrhundert der Hexen: Roman
nicht mehr unter den Lebenden weilen.
Allerdings galt das schon seit einer ganzen Weile. Eine Njawka konnte man doch nicht mehr umbringen, denn sie war ja ohnehin tot. Eine Njawka musste man ausweiden, ganz und gar vernichten. Und die Tschugeister verstanden ihr Handwerk.
Ywha hatte das schon einmal mitangesehen. Die Tschugeister nehmen an anderen keinen Anstoß, fürchten auch keine Zeugen. In ihrer Offenheit lag etwas Anstößiges. Normalerweise brachten sie ihr Opfer nicht weiter als bis zur nächsten Hausecke. Auf offener Straße, mitten in einem Hof vollzogen sie ihr Ritual, das eigentlich in einem menschenleeren Keller ausgeführt werden sollte. Selbst Kinder wohnten manchmal dem Tanz der Tschugeister bei. Nachts nässten sie dann ins Bett und bereiteten ihren Eltern allerlei Kummer und Sorge. Tschugeister töten Njawken mit einem Tanz. Dieser Tanz spinnt das Opfer in ein unsichtbares Netz ein, erstickt es und presst es aus. Auch eine dematerialisierte Njawka hatte Ywha schon gesehen. Genauer gesagt, sie hätte sie sehen können, wenn sie sich nicht davor gefürchtet und den Blick abgewandt hätte …
Am Fenster zogen die gekrümmten Schultern eines Fahrradfahrers vorbei, der in die Pedale trat. Ywha schluckte. Verglichen mit den Tschugeistern nahm sich die Inquisition fast wie Väterchen Frost aus. Der gute Alte, der erst Geschenke an die braven Kinder verteilte und in den leer gewordenen Sack dann diejenigen stopfte, die weniger folgsam gewesen waren.
Der knochige Mann neben ihr schien sich einzubilden, nun, nachdem Ywha schon auf seinen Knien gesessen hatte, hätte er gewisse Rechte erworben, und zwinkerte ihr frech zu. Angewidert wandte sich Ywha ab.
Klawdi raste nie. Selbst jetzt, auf der leeren Überlandstraße, jagte er nicht in halsbrecherischer Geschwindigkeit dahin, wie es die ungeheure Motorstärke des Autos eigentlich verlangte. Er fuhr einfach in normalem, wenn auch nicht sonderlich langsamem Tempo. Beim Fahren wollte er sich entspannen, legte es jedoch nicht auf einen Kick an. Allerdings kam der Großinquisitor auch ohne diesen Geschwindigkeitsrausch in den Genuss extremer Empfindungen – in letzter Zeit sogar mehr, als ihm lieb war.
Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seinen Instinkten zu vertrauen. Wenn ein unangenehmes, im Grunde genommen jedoch nicht außergewöhnliches Ereignis einen unerklärlichen Alarm in ihm auslöste und ihn dieses Gefühl, obwohl es sich längst gelegt haben sollte, nicht verließ, dann nahm er das Signal ernst. Dann fragte er sich: Woher rührte es?
Klawdi fuhr durch die letzten Schwaden des Morgennebels. Auf dem Beifahrersitz leistete ihm eine halbleere Schachtel dünner teurer Zigaretten Gesellschaft. Er rauchte, den Ellbogen aufs Fenster gestützt. An einer Seite der Windschutzscheibe klebte ein Bild, ein spitzbübisches Mädchen auf einem Besen, mit einem im Wind wehenden Schwanz, einem spielerisch entblößten Bein und charmanten Grübchen in den rosafarbenen Wangen.
Das Bild hatte Klawdi letztes Jahr an einem Kiosk gekauft. Er hatte es aus einer Unmenge von lachenden Echsen, Krokodilen, Robotern, nackten Feen und bärtigen Magiern ausgewählt. Und er war der einzige erwachsene Kunde gewesen, alle anderen waren Kinder.
Kurz riss er den Blick von der leeren Straße, um das eigene Spiegelbild in der Scheibe zu betrachten. Verschwommen und bleich, wie ein Gespenst, mit einem unangenehmen Lächeln um die dünnen Lippen. Vorurteile …
Wer, wenn nicht er, verstand etwas über das verknäulte Netz von Vorurteilen, das sich seit Langem über den Hexen zusammenzog. Wer, wenn nicht er, vermochte die mächtigen Wurzeln all dieser diffusen Ängste auszumachen. Wenn Julian Mytez das über Hexen gewusst hätte, was dem Großinquisitor im Zuge seines Berufs bekannt geworden war, hätte er Ywha kurzerhand auf der Wiese vor seinem Haus verbrannt. In dem Lagerfeuer bei ihrem Picknick …
Und trotzdem: Worum handelte es sich bei dieser Kette von Ereignissen, die sich da in seinem Gedächtnis wand und sich zwar nicht an der Oberfläche zeigen, aber auch nicht vergessen werden wollte? Woher speiste sich dieses Gefühl einer drohenden Gefahr, diese Ahnung eines nahenden Unglücks?
Selbstverständlich hätte er das Mädchen eigentlich nicht gehen lassen dürfen. Es war ihm jedoch schlicht zuwider gewesen, es vor diesen beiden Romantikern, Mytez senior und junior, zu einer beispiellosen Szene der Gewalt kommen zu lassen. Und es wäre ihm auch peinlich gewesen, den
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