Das Janusprojekt
angeblicher Adresse einen Besuch abzustatten, sobald ich Grüns Angelegenheiten geregelt hatte, aber ich konnte es ebenso gut gleich tun. Nicht zuletzt, weil ich mich fragte, ob die räumliche Nähe dieser beiden Adressen – von Britta Warzok und von Vera Messmanns Laden – nur Zufall war. Oder vielleicht doch mehr? Ein bedeutsamer Zufall vielleicht. Jung hatte dafür einen wohlklingenden Ausdruck, der mir sicher eingefallen wäre, hätten nicht die Umstände alles andere aus meinem Kopf verdrängt. Dann hätte ich mich auch sicher daran erinnert, dass nicht jeder bedeutsame Zufall positiv war.
Ich machte kehrt und folgte der Horlgasse nach Osten. Ich brauchte nur zwei Minuten, um die Nummer zweiundvierzig zu finden. Das Haus lag gleich bei der Straßenbahnhaltestelle und ging auf den Schlickplatz hinaus. Nur fünfzig Meter entfernt war die Wiener Polizeischule. Ich stand vor einem weiteren Barockportal. Zwei Atlanten stemmten ein efeubekränztes Vordach. Eine kleine Tür im Portal stand offen. Ich betrat das Haus und stand vor den Briefkästen. Es gab nur drei Wohnungen, auf jedem Stockwerk eine. An dem Briefkasten, der wohl zur obersten Wohnung gehörte, stand «Warzok». Er quoll von der angesammelten Post mehrerer Tage über, aber ich ging dennoch hinauf.
Die Wohnungstür war angelehnt. Ich schob sie ein Stück auf und streckte den Kopf in die unbeleuchtete Diele. Die Wohnung fühlte sich kalt an. Zu kalt, als dass sich dort drinnen irgendjemand hätte wohl fühlen können.
«Frau Warzok?», rief ich. «Sind Sie da?»
Es war eine große Wohnung mit extrem hohen Räumen und Fenstern. Eins stand offen. Ein unangenehmer Geruch drang mir in Nase und Rachen. Etwas Muffiges, Fauliges. Ich zog ein Taschentuch heraus, um mir damit Nase und Mund zuzuhalten, und musste feststellen, dass es das Höschen war, mit dem ich in Vera Messmanns Laden meine Fingerabdrücke weggewischt hatte. Aber das spielte jetzt wohl auch keine Rolle mehr. Ich ging weiter in die Wohnung hinein und sagte mir, dass da niemand sein konnte, weil niemand diese Kälte und diesen Geruch länger aushalten würde. Aber dann wurde mir klar, dass ja jemand das Fenster aufgemacht haben musste, und zwar erst unlängst. Ich trat an das offene Fenster und sah auf den Platz hinunter, während gerade mit einem Höllengetöse eine Straßenbahn vorbeifuhr. Ich sog die frische Luft ein und drang dann weiter ins Dunkel der Wohnung vor, wo der Geruch immer schlimmer wurde. Plötzlich ging das Licht an. Ich fuhr herum und sah mich zwei Männern mit Pistolen gegenüber. Und beide Pistolen waren auf mich gerichtet.
33
Die Männer schienen beide nicht besonders kräftig, und ohne die Pistolen hätte ich sie einfach beiseiteschieben können wie die Flügel einer Schwingtür. Sie wirkten nur unwesentlich intelligenter als der durchschnittliche pistolenbewehrte Gorilla. Ihre Gesichter waren schwer zu beschreiben, wie eine Wiese oder ein Schotterweg. Man musste sie sich genau ansehen, um sie sich einzuprägen. Das tat ich. Ich tue das immer, wenn jemand mit einer Pistole auf mich zielt. Was mich aber nicht daran hinderte, die Hände hochzunehmen. Das verlangt nun mal die Etikette, wenn eine Schusswaffe den Raum betritt.
«Wer sind Sie? Und was machen Sie hier?»
Der, der das Wort ergriffen hatte, bemühte sich um einen strengen Ton, so als versuchte er, um des Effekts willen Erziehung und Herkunft zu vergessen. Er hatte grauweißes Haar und einen Bart, der um seinen Mund ein perfektes Siebeneck bildete und seinem zarten Gesicht den unabdingbaren Hauch Männlichkeit verlieh. Seine Augen hinter der dünnrandigen Brille waren weit aufgerissen, man sah viel zu viel Weiß um die gelbbraune Iris, als ob er selbst nicht so genau wüsste, was er da tat. Er trug einen dunklen Anzug, einen kurzen Ledermantel und ein kleines Hütchen.
«Dr. Erich Grün», sagte ich. Was auch immer Erich Grün getan haben mochte, mit seinem Pass als einzigem Ausweis hatte ich keine andere Wahl, als mich für ihn auszugeben. Außerdem war ja laut Medgyessy die alliierte Polizei hinter Grün her, nicht die österreichische. Und das hier waren österreichische Polizisten, da war ich mir ganz sicher. Sie hatten beide dasselbe Pistolenmodell – eine funkelnagelneue Mauser Automatik, wie sie alle Beamten der entnazifizierten Wiener Polizei erhalten hatten.
«Papiere», forderte der zweite Polizist.
Langsam griff ich in die Tasche. Die beiden sahen aus, als hätten sie zusammen nicht viel mehr
Weitere Kostenlose Bücher