Das Janusprojekt
Nachhilfe von Engelbertina natürlich. Kein Wunder, dass ich nicht gemerkt hatte, was lief, so wie sie mir Sand in die Augen gestreut und mich mit ihrem eindrucksvollen Körper abgelenkt hatte. Wenn ich nicht selbst auf die Idee gekommen wäre, mich für Erich Grün auszugeben, hätte sie es wahrscheinlich vorgeschlagen. Aber dass Erichs Mutter sterben würde, hatten sie ja wohl kaum vorhersehen können. Es sei denn, jemand hatte auch da ein bisschen nachgeholfen. War es denkbar, dass Erich Grün den Tod seiner eigenen Mutter hatte herbeiführen lassen? Warum nicht? Mutter und Sohn hatten nicht gerade ein inniges Verhältnis gehabt. Und sowohl Bekemeier als auch Medgyessy hatten davon gesprochen, wie unerwartet die alte Frau gestorben sei. Jacobs musste auch sie umgebracht haben. Oder jemanden beauftragt haben, es zu tun. Jemanden von der CIA vielleicht oder von der ODESSA. Aber ich begriff immer noch nicht recht, warum Vera Messmann und die echte Britta Warzok hatten sterben müssen.
Eins jedenfalls war klar: Ich war ein verdammter Idiot gewesen. Aber was hatten sie sich für eine Mühe gegeben! Ich fühlte mich wie ein gedrechseltes Tischbein zwischen vier mächtigen Schraubzwingen. Geleimt. Der Begriff schien kaum ausreichend für die byzantinischen Ausmaße der Verschwörung, der ich erlegen war. Ich war der Idiot, der für andere die Kastanien aus dem Feuer holte, in dem sie ihn verheizen wollten.
«Darf ich mich setzen?»
Ich sah auf und stellte fest, dass die Rothaarige gewonnen hatte. Sie wirkte etwas erhitzt, als ob der Streit um das Vergnügen meiner Gesellschaft hart gewesen wäre. Halb erhoben wie der Tölpel, der ich war, lächelte ich und deutete auf den Sessel mir gegenüber. «Bitte», sagte ich. «Fühlen Sie sich herzlich eingeladen.»
«Dafür bin ich ja hier», sagte sie und glitt mit schlangenhafter Geschmeidigkeit in die Sitznische. Ihre Schlängelnummer war um Klassen besser als alles, was oben auf der pagodenartigen Bühne des Oriental vor sich ging. «Ich heiße Lili. Und du?»
Fast hätte ich gelacht. Meine private Lili Marleen. Es war typisch für die Animierdamen, sich schicke Phantasienamen zuzulegen. «Erich», sagte ich. «Was zu trinken, Lili?» Ich winkte den Kellner herbei. Er hatte Hindenburgs Schnurrbart, Hitlers Augen und Adenauers Persönlichkeit. Es war, als bedienten einen fünfzig Jahre deutscher Geschichte. Lili sah den Mann verächtlich an.
«Er hat doch schon eine Flasche, oder?» Der Kellner nickte. «Dann bring einfach nur ein zweites Glas. Und ein Schalerl Braun. Ja, ein Schalerl Braun.» Der Kellner nickte und verschwand wortlos.
«Sie trinken Kaffee?», sagte ich.
«Vielleicht nehme ich auch ein Gläschen Cognac, aber wenn du schon eine Flasche bestellt hast, kann ich trinken, was ich will», sagte sie. «So ist die Regel.» Sie lächelte. «Stört dich doch nicht, oder? Spart dir ein bisschen Geld. Dagegen ist doch nichts einzuwenden, oder?»
«Ganz und gar nicht», sagte ich.
«Außerdem habe ich einen langen Tag hinter mir. Tagsüber arbeite ich nämlich in einem Schuhgeschäft.»
«Welchem?»
«Darf ich nicht verraten», sagte sie. «Du könntest hinkommen und mich auffliegen lassen.»
«Da würde ich mich ja auch auffliegen lassen», sagte ich.
«Stimmt», sagte sie. «Aber es ist besser, wenn du’s nicht weißt. Stell dir mal vor, du kommst da hin und siehst mein wahres Ich Schuhe anschleppen und Füße vermessen.»
Sie nahm sich eine von meinen Zigaretten, und als ich ihr Feuer gab, hatte ich Gelegenheit, sie etwas genauer zu betrachten. Sie hatte nur vereinzelte Sommersprossen um die Nase, die vielleicht ein bisschen zu spitz war. Sie verlieh ihr einen harten und berechnenden Zug. Ihre Augen waren gierig grün. Die Zähne waren klein und sehr weiß, mit einem leichten Unterbiss. Bis auf diesen einen winzigen Makel sah sie aus wie eine dieser Sonneberg-Puppen, mit Porzellangesicht und Unterwäsche.
Meine Spiegeleier kamen gleichzeitig mit ihrem Schalerl Braun – einer Schale, halb Kaffee, halb Milch. Während ich aß, erzählte sie von sich, rauchte, trank ihren Kaffee und einen kleinen Cognac. «Ich hab dich hier noch gar nie gesehen», bemerkte sie.
«War schon länger nicht mehr hier», sagte ich. «Ich wohne in München.»
«Da würde ich auch gern wohnen», sagte sie. «Irgendwo weiter westlich als Wien jedenfalls. Irgendwo, wo keine Russen sind.»
«Glauben Sie, die Amis wären besser?»
«Du nicht?»
Ich ließ das unbeantwortet.
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