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Das Janusprojekt

Das Janusprojekt

Titel: Das Janusprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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hatte überhaupt nie im Lagerbordell gearbeitet.
    Laut der Akte war Grün immer noch auf freiem Fuß. Ermittlungen durch den Rechtsoffizier der Ersten Ukrainischen Front und zwei Rechtsoffiziere der Sowjetischen außerordentlichen staatlichen Kommission hatten nichts erbracht. Aussagen von Insassen aller drei Lager sowie eines medizinischen Sachverständigen der Roten Armee, F. F. Bryschin, waren beigeheftet.
    Das letzte Blatt war das Akteneinsichtsprotokoll, und es hielt noch eine Überraschung für mich bereit, denn hier fand ich den Eintrag: Eingesehen im Oktober 1946 von den amerikanischen Besatzungsbehörden, Wien, in Person von Major J. Jacobs, U. S. Army .
    Christotonowna brachte mir ein kleines Blechtablett mit einem Glas heißen russischen Tees, einem langen Löffel und einem Schälchen mit Zuckerklumpen. Ich bedankte mich und wandte mich der Akte Heinrich Henkell zu, die nicht so ausführlich war wie Grüns. Vor dem Krieg hatte Henkell an der Aktion T4, dem Euthanasieprogramm der Nazis, mitgewirkt, in einer psychiatrischen Klinik in Hadamar. Während des Kriegs war er als Sturmbannführer der Waffen-SS stellvertretender Leiter des Instituts für Wehrwissenschaftliche Zweckforschung gewesen und hatte in Auschwitz, Majdanek, Buchenwald und Dachau sein Unwesen getrieben. Er hatte Grün in Majdanek bei dessen Typhusexperimenten und später in Dachau bei den Malariaversuchen assistiert. Im Zuge seiner medizinischen Forschungstätigkeit hatte er eine große Sammlung von menschlichen Schädeln verschiedenen rassischen Typus zusammengetragen. Man ging davon aus, dass Henkell in Dachau nach der Befreiung des Lagers von amerikanischen Soldaten getötet worden war.
    Ich lehnte mich zurück. Mein lautes Seufzen rief die Genossin Christotonowna wieder herbei. Sie hielt den Kloß in meiner Kehle fälschlicherweise für etwas anderes als Selbstmitleid.
    «Schwer zu verkraften?»
    Ich nickte nur, weil ich nichts anderes herausbringen konnte. Ich trank meinen Tee aus, unterschrieb das Protokoll, bedankte mich für ihre Hilfe und ging. Es tat gut, frische, saubere Luft zu atmen. Jedenfalls so lange, bis ich vier Militärpolizisten aus dem Justizpalast kommen und in Patrouillenfahrzeuge steigen sah. Vier weitere Elefanten folgten. Und nochmal vier. Ich blieb im Eingang stehen, beobachtete sie aus sicherer Entfernung und rauchte eine Zigarette, bis alle weg waren.
    Natürlich hatte ich von dem Ärzteprozess gehört. Ich erinnerte mich, wie überrascht ich gewesen war, dass es die Alliierten für angemessen befunden hatten, den Direktor des Deutschen Roten Kreuzes zu hängen – jedenfalls bis ich dann las, dass er Sterilisationsexperimente durchgeführt und Juden zum Trinken von Meerwasser gezwungen hatte. Viele Leute in Deutschland – die meisten sogar – hatten sich geweigert, die bei dem Prozess vorgebrachten Beweise als echt zu akzeptieren, und behauptet, die während der vier Prozessmonate vorgelegten Fotos und Dokumente seien in einem breitangelegten Betrugsmanöver gefälscht worden, um Deutschland noch mehr zu erniedrigen. Die Zeugen und überlebenden Opfer hätten allesamt gelogen. Ich selbst hatte nur schwer begreifen können, dass wir, die wir doch als Kulturvolk galten, im Namen der Wissenschaft so entsetzliche Dinge getan hatten. Es war schwer zu begreifen, ja. Aber weit weniger schwer zu glauben. Nach meinen eigenen Erlebnissen an der Ostfront war ich inzwischen der Überzeugung, dass Menschen zu schrankenloser Unmenschlichkeit fähig waren. Ja, vielleicht war es in erster Linie die Unmenschlichkeit, die uns Menschen kennzeichnete. So langsam kapierte ich, was hier lief. Ich fragte mich nur noch, was Grün, Jacobs und Henkell jetzt vorhatten. Aber ich hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, wo ich die Antwort auf diese Frage finden würde.
    Als das letzte Patrouillenfahrzeug vor dem Justizpalast losgefahren war, ging ich zum Heldenplatz, dem großen begrünten Platz am Ring. Vor mir lag die Neue Hofburg, die ebenfalls von den Russen besetzt und mit einem großen Bild von Väterchen Stalin geschmückt war. Durch eine Arkade erreichte ich den Pflasterplatz, an dem die verwaiste Spanische Hofreitschule – die Lipizzaner waren alle vor russischen Essensgelüsten in Sicherheit gebracht worden – und die Nationalbibliothek lagen. Ich betrat die Bibliothek. Ein Mann bohnerte einen Holzfußboden von der Größe eines Fußballplatzes. Drinnen war es kalt und weitgehend leer. Ich ging an den Tisch der

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