Das Janusprojekt
Bibliotheksaufsicht und wartete, dass mir die Bibliothekarin, die gerade mit dem Ausfüllen einer Katalogkarte beschäftigt war, ihre Aufmerksamkeit schenken würde. Auf dem Schild vor ihr stand «Auskunft», aber es hätte ebenso gut «Cave canem» darauf stehen können. Zwei Minuten vergingen, ehe sie meine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen geruhte, wobei ihre Brille die Morsezeichen für «weg da» blinkte.
«Ja?»
Ihr graues Haar war blau getönt, ihr Mund so streng wie ein Geometriekasten. Sie trug eine weiße Bluse und eine zweireihige, marineblaue Jacke. Ein bisschen erinnerte sie mich an Admiral Dönitz. An ihrer Brusttasche klemmte ein Hörgerät. Ich beugte mich zum Mikrophon und zeigte auf eine der Marmorstatuen.
«Ich glaube, der da wartet schon etwas länger als ich», sagte ich.
Zur Antwort zeigte sie mir die Zähne. Die waren besser als die Zähne der Russin und ziemlich kräftig. Jemand hatte die Dame mit Fleisch gefüttert.
«Werter Herr», sagte sie spitz. «Das hier ist die Österreichische Nationalbibliothek. Wenn Sie Unterhaltung suchen, sollten Sie ins Kabarett gehen. Wenn Sie ein Buch wollen, kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen.»
«Eigentlich suche ich eine Zeitschrift», erklärte ich.
«Eine Zeitschrift?» Sie sagte es, als wäre es etwas Obszönes.
«Ja. Eine amerikanische Zeitschrift. Haben Sie hier amerikanische Zeitschriften?»
«Bedauerlicherweise ja. Welche Zeitschrift wollen Sie denn?»
«Life», sagte ich. «Das Heft vom 4. Juni 1945.»
«Folgen Sie mir bitte», sagte sie und erhob sich hinter ihrem hölzernen Festungswall.
«Mit Vergnügen.»
«Das meiste, was wir hier haben, ist aus der Sammlung des Prinzen Eugen von Savoyen», sagte sie. «Aber für unsere amerikanischen Besucher haben wir auch Life -Hefte. Das ist nämlich, ehrlich gesagt, das Einzige, wonach sie jemals fragen.»
«Dann ist heute wohl mein Glückstag», sagte ich.
«Sieht so aus.»
Fünf Minuten später saß ich an einem langen Tisch und starrte auf die Zeitschrift, die Major Jacobs vor mir in Sicherheit gebracht hatte. Auf den ersten Blick war schwer vorstellbar, warum. Auf der Titelseite war ein offener Brief des Vereinigten Generalstabs an das amerikanische Volk. Und als ich sie aufschlug, war alles voll mit patriotischen Kriegsanstrengungen, amerikanischen Colgate-Lächeln und Reklameanzeigen für General Electric, Iodent und Westinghouse. Da war ein hübsches Foto von Humphrey Bogart und Lauren Bacall bei ihrer Hochzeit und ein noch hübscheres von Himmler, Minuten nachdem er sich vergiftet hatte. Ich blätterte noch etwas weiter. Fotos von einem englischen Seebad. Und dann, auf Seite dreiundvierzig, vermutlich das, was ich suchte. Ein kurzer Artikel darüber, dass achthundert Häftlinge in amerikanischen Strafanstalten sich freiwillig bereit erklärt hatten, sich mit Malaria infizieren zu lassen, damit Mediziner die Krankheit näher erforschen konnten. Es war leicht nachvollziehbar, warum Jacobs einen solchen Artikel nicht in falsche Hände hatte geraten lassen wollen. Was das amerikanische Forschungsministerium in Gefängnissen in Georgia, Illinois und New Jersey gemacht hatte, unterschied sich kaum von dem, was SS-Ärzte in Dachau gemacht hatten. Ganz offensichtlich hatten die Amerikaner Menschen für etwas gehängt, was sie sich selbst ebenfalls hatte zuschulden kommen lassen. Zugegeben, diese Sträflinge waren allesamt freiwillige Versuchsobjekte gewesen, aber dieselbe Ausrede hätten Grün und Henkell wahrscheinlich auch vorgebracht. Und Engelbertina oder Albertine hätte vermutlich den lebenden Beweis abgegeben. Als ich diesen Life -Artikel las und die Fotos sah, überkam mich ein Jucken. Nicht das Jucken, das man verspürt, wenn man Männer sieht, denen Flaschen mit infizierten Mücken an den Unterleib gepresst werden – ein seltsam mittelalterliches Bild, wie irgendein altes Heilverfahren mit Hilfe von Bienenstichen. Nein, ein anderes Jucken, das einen überfällt, wenn einem der Verdacht kommt, dass etwas sehr Hässliches im Gange ist. Ein Jucken, das nicht aufhört, ehe man an der betreffenden Stelle kratzt.
Ich fand ein medizinisches Wörterbuch, und als ich die Symptome von Malaria und die von viraler Meningitis nachschlug, stellte ich fest, dass sich beide Krankheiten mehr oder weniger gleich äußerten. In den bayerischen Alpen, wo Moskitos nicht gerade häufig sind, war es sicher nicht schwer gewesen, mehrere Dutzend Malariatote für Opfer einer Meningitis-Epidemie
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