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Das Janusprojekt

Das Janusprojekt

Titel: Das Janusprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Grün auf und begann zu lesen.
    Da war alles – und noch mehr. Grüns SS-Akte. Seine Parteiakte – er war 1934 eingetreten. Kopien seiner Offiziersernennungsurkunden. Seine SS-Beurteilung – «mustergültig». Die erste überraschende Entdeckung war, dass Grün überhaupt nie beim SS-Panzerkorps gewesen war. Er hatte nie in Frankreich gedient und auch nicht an der Ostfront. Ja, er schien überhaupt nie an der Front gewesen zu sein. Laut den ärztlichen Unterlagen, die ausführlich genug waren, um seinen fehlenden kleinen Finger zu verzeichnen, war er nie verwundet worden. Grüns letzte militärärztliche Untersuchung hatte im März 1944 stattgefunden. Dabei war nichts übersehen worden. Nicht mal ein leichtes Ekzem. Aber von einer entfernten Milz stand da nichts und ebenso wenig von einer Rückgratverletzung. Ich spürte, wie meine Ohren heiß wurden. Konnte es wirklich sein, dass er nur simuliert hatte? Dass er gar nicht an den Rollstuhl gefesselt war? Dass ihm die Milz nie entfernt worden war? Wenn ja, hatte er wirklich mit mir gespielt wie mit einer Marionette. Außerdem war Grün auch nicht, wie er behauptete, Unteroffizier gewesen. Laut der letzten Ernennungsurkunde vom Januar 1945 war Grün bei Kriegsende Oberführer der Waffen-SS gewesen. Aber das Schockierendste kam jetzt erst, obwohl ich schon fast damit gerechnet hatte, seit ich wusste, dass er nie beim Panzerkorps gewesen war.
    Erich Grün, Spross einer reichen Wiener Familie, hatte als brillanter junger Mediziner gegolten. Nach dem Studium war er eine Zeitlang in Kamerun und Togo gewesen, wo er zwei grundlegende Aufsätze über Tropenkrankheiten schrieb, die im Deutschen Ärzteblatt erschienen. Nach seiner Rückkehr 1935 war er der SS beigetreten und hatte einen Posten in der Gesundheitsabteilung im Reichsministerium des Inneren übernommen, wo er vermutlich mit Experimenten an geistig behinderten Kindern zu tun gehabt hatte. Nach Kriegsausbruch war er Lagerarzt in Lemberg-Janowska, in Majdanek und schließlich in Dachau gewesen. In Majdanek hatte er nachweislich achthundert sowjetische Kriegsgefangene mit Typhus und Malaria infiziert, um das Fortschreiten der Krankheiten untersuchen zu können. In Dachau war er Mitarbeiter von Gerhard Rose gewesen, einem Generalarzt der Luftwaffe. Es folgten einige Querverweise zu Rose. Als Abteilungsleiter für Tropenmedizin am Robert-Koch-Institut in Berlin hatte Rose in Dachau an Häftlingen tödliche Experimente durchgeführt, die der Entwicklung von Impfstoffen gegen Malaria und Typhus dienen sollten. Über zwölfhundert Dachauer Häftlinge, darunter zahlreiche Kinder, waren durch verseuchte Anophelesmücken oder Injektionen mit verseuchtem Blut gezielt mit Malaria infiziert worden.
    Die detaillierten Ausführungen über die Experimente waren eine extrem grässliche Lektüre. Im Dachauer Nazi-Ärzteprozess im Oktober 1946 hatte ein katholischer Priester, ein gewisser Pater Koch, ausgesagt, er sei auf die Malariastation in Dachau gebracht worden, wo man ihm jeden Nachmittag eine halbe Stunde lang ein Kästchen mit Malariamücken zwischen den Beinen fixiert habe. Nach siebzehn Tagen habe er die Station verlassen, und erst acht Monate später habe er den ersten Malariaanfall erlitten. Andere Priester sowie Kinder, russische und polnische Kriegsgefangene und natürlich viele Juden hatten weniger Glück gehabt: Mehrere hundert waren binnen der drei Jahre, die diese Malariaexperimente dauerten, gestorben.
    Sieben der so genannten Nazi-Ärzte waren für ihre Verbrechen im Juni ’48 in Landsberg hingerichtet worden. Rose war einer der fünf, die lebenslänglich bekommen hatten. Weitere vier Ärzte waren zu Haftstrafen von zehn bis zwanzig Jahren verurteilt worden. Sieben hatte man freigesprochen. Beim Prozess hatte Gerhard Rose sein Tun mit dem Argument gerechtfertigt, es sei doch vertretbar, «ein paar hundert» Menschenleben zu opfern, wenn es um die Entwicklung einer Schutzimpfung gehe, die Zigtausende retten könne.
    Rose hatte einen Mitarbeiterstab gehabt, zu dem neben Erich Grün auch Heinrich Henkell und eine Kapo-Krankenschwester namens Albertine Zehner gehörte.
    Albertine Zehner. Das war der größte Schock. Aber es konnte sich nur um dieselbe Person handeln. Und es schien einiges zu erklären, was mir bis jetzt ein Rätsel gewesen war. Engelbertina Zehner war in Wirklichkeit eine jüdische Lagerinsassin gewesen, die dann Kapo-Krankenschwester im Krankenblock von Majdanek und später Dachau geworden war. Sie

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