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Das Janusprojekt

Das Janusprojekt

Titel: Das Janusprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Nymphenburger Porzellan und einer privaten Kunstgalerie. Drinnen war alles in Bewegung. Schreibmaschinen klapperten, Aktenschränke wurden geräuschvoll geöffnet und geschlossen, Formulare ausgefüllt. Leute kamen Treppen herunter oder fuhren mit einem Gitterfahrstuhl nach oben. Vier Jahre nach Kriegsende war das Rote Kreuz noch immer mit dem menschlichen Fallout beschäftigt. Um das Ganze ein bisschen interessanter zu machen, waren auch noch die Maler im Haus, und ich musste gar nicht an die Decke schauen, um zu wissen, in welcher Farbe sie sie strichen – der braune Linoleumboden war übersät mit weißen Farbklecksen. Hinter einem Empfangstresen, der eher wie der Tresen einer Wirtschaft aussah, war gerade eine Frau mit Zöpfen und rosigem Gesicht dabei, einen alten Mann abzuwimmeln, der nun Jude sein mochte oder auch nicht – ich konnte das nie erkennen.
    Das Problem schien hauptsächlich darin zu bestehen, dass nur die Hälfte dessen, was er sagte, Deutsch war. Der Rest, den er, für den Fall, dass sie die Kraftausdrücke doch verstand, hauptsächlich an den Fußboden richtete, war Russisch. Ich legte meine schimmernde Rüstung an, schwang mich auf mein weißes Pferd und eilte dem Mädchen zu Hilfe.
    «Vielleicht kann ich ja vermitteln», sagte ich zu ihr, ehe ich den Mann auf Russisch ansprach. Wie sich herausstellte, war er auf der Suche nach seinem Bruder, der erst in Treblinka und dann in Dachau gewesen war, um dann schließlich in einem der Kaufering-Lager zu landen. Er habe kein Geld mehr, sagte der Alte. Er müsse zum DP-Lager in Landsberg gelangen. Er habe gehofft, das Rote Kreuz werde ihm helfen. So wie ihn die Kleine ansah, war ich mir da nicht sicher, also gab ich dem Alten zwei Mark und erklärte ihm, wie er zum Bahnhof in der Bayerstraße kam. Er bedankte sich überschwänglich und überließ mich dann meinem Schicksal.
    «Was sollte das alles?», wollte sie wissen.
    Ich erklärte es ihr.
    «Seit ’45 sind beim Roten Kreuz insgesamt sechzehn Millionen Suchanträge gestellt worden», antwortete sie auf den Vorwurf in meinen Augen. «Eins Komma neun Millionen Heimkehrer sind nach vermissten Personen befragt worden. Es werden immer noch neunundsechzigtausend Kriegsgefangene, ein Komma eine Million Wehrmachtsangehörige und fast zweihunderttausend deutsche Zivilisten vermisst. Das bedeutet, dass das vorgeschriebene Verfahren eingehalten werden muss. Wenn wir jedem, der hier mit einer rührseligen Geschichte ankommt, zwei Mark geben würden, wären wir im Nu pleite. Sie würden staunen, wie viele Leute hier hereinkommen und angeblich ihren verschollenen Bruder suchen, während sie in Wirklichkeit nur das Geld wollen, um sich einen hinter die Binde zu kippen.»
    «Dann ist es ja ein Glück, dass er das Geld von mir bekommen hat und nicht vom Roten Kreuz», sagte ich. «Ich kann mir den Verlust leisten.» Ich schenkte ihr ein warmes Lächeln, aber sie war weit davon entfernt aufzutauen.
    «Was kann ich für Sie tun?», fragte sie.
    «Ich möchte zu Pater Gotovina.»
    «Haben Sie einen Termin?»
    «Nein», sagte ich. «Ich dachte, ich erspare ihm die Mühe, zu mir aufs Präsidium zu kommen.»
    «Aufs Polizeipräsidium?» Wie die meisten Deutschen bekam sie es immer noch mit der Angst, wenn es um die Polizei ging. «In der Ettstraße?»
    «Das mit dem steinernen Löwen davor», sagte ich. «Ganz recht. Waren Sie schon mal dort?»
    «Nein», sagte sie, jetzt nur darauf erpicht, mich loszuwerden. «Nehmen Sie den Fahrstuhl in den zweiten Stock. Sie finden Pater Gotovina in der Pass- und Visum-Abteilung. Zimmer neunundzwanzig.»
    Auf den ersten Blick wirkte der Fahrstuhlführer nicht viel älter als ich. Erst nachdem man auf den zweiten Blick wahrgenommen hatte, dass ihm ein Bein fehlte und sein Gesicht eine Narbe zierte, sagte einem der dritte Blick, dass er wohl nicht viel älter als fünfundzwanzig war. Ich trat zu ihm in den Fahrstuhlkäfig und sagte «Zwoter», und er tat seine Arbeit mit der routinierten Präzision und der grimmigen Entschlossenheit eines Mannes, der eine Flak 38 bedient – das Zwanzig-Millimeter-Geschütz mit Pedalen und Liegesitz.
    Die Pass- und Visum-Abteilung war wie ein Staat im Staate. Noch mehr Schreibmaschinen, weitere Aktenschränke, weitere auszufüllende Formulare und weitere fleischig aussehende Frauen. Sie wirkten allesamt, als verspeisten sie täglich ein Rotkreuzpaket samt Packpapier und Bindfaden zum Frühstück. Neben einer 50-Millimeter-Kamera mit Stativ und Haube

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