Das Janusprojekt
jedenfalls gehört, dass das Lager in den letzten Wochen des Jahres ’43 liquidiert wurde. Die Rote Armee befreite Lwow erst im Juli ’44. Viele Leute aus Janowska wurden ins Konzentrationslager Majdanek verbracht. Wenn Sie herausfinden wollen, was aus Warzok wurde, sollten Sie mit anderen sprechen, die in Janowska Dienst taten. Männern wie Wilhelm Rokita. Und da war ein gewisser Wepke – den Vornamen weiß ich nicht mehr, nur dass er Gestapokommissar war und mit Warzok befreundet. Wie auch zwei Männer vom SD, ein Scharführer Rauch und ein Oberwachtmeister Kepich. Ich habe allerdings keine Ahnung, ob die noch leben.»
«Warzok wurde zuletzt in Ebensee in der Nähe von Salzburg gesehen», sagte ich. «Seine Frau sagt, er war im Begriff zu fliehen, und zwar mit Hilfe einer Organisation von alten Kameraden. Der ODESSA.»
Gebauer schüttelte den Kopf. «Nein, ich glaube kaum, dass es die ODESSA war», sagte er. «Die ODESSA und die alten Kameraden sind zwei ganz verschiedene Dinge. Die ODESSA wird weitgehend von den Amerikanern betrieben. Auf der untersten Ebene bedient sie sich derselben Leute, die auch für die alten Kameraden arbeiten, ja, aber an der Spitze wird sie von der CIA gelenkt. Die CIA hat sie geschaffen, um bestimmten Nazis zur Flucht zu verhelfen, als sie als antikommunistische Agenten ausgedient hatten. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Warzok als CIA-Agent sonderlich brauchbar gewesen wäre. Schon allein, weil er von Geheimdienstangelegenheiten nichts verstand. Wenn er je ins Ausland gekommen ist, dann sicher mit Hilfe der alten Kameraden, des sogenannten Netzes. Sie müssten eine der Spinnen, die das Netz gesponnen haben, fragen, wohin er sich abgesetzt haben könnte.»
Meine nächsten Worte wählte ich mit viel Bedacht. «Meine verstorbene Frau hatte Angst vor Spinnen», sagte ich. «Große Angst. Wenn sie eine fand, musste immer ich kommen und mich darum kümmern. Das Komische ist, jetzt, wo sie tot ist, sehe ich nie mehr Spinnen. Ich wüsste gar nicht, wo ich eine suchen sollte. Sie?»
Gebauer grinste. «Er spricht wirklich kein Wort Deutsch», sagte er, auf den MP bezogen. «Ist schon in Ordnung.» Dann schüttelte er den Kopf. «Hier drinnen hört man so manches über die alten Kameraden. Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, welche Informationen verlässlich sind. Schließlich hat es noch keiner von uns hier geschafft zu fliehen. Wir sind erwischt und hier eingebuchtet worden. Und außerdem habe ich das Gefühl, das, was Sie da tun, könnte gefährlich werden, Herr Gunther. Sehr gefährlich. Man kann einfach eine heimliche Fluchtroute in Anspruch nehmen, aber Fragen danach zu stellen, ist etwas ganz anderes. Haben Sie sich gut überlegt, welche Risiken Sie da eingehen? Ja, auch wenn Sie selbst bei der SS waren. Sie wären schließlich nicht der erste SS-Mann, der mit den Juden zusammenarbeitet. Es gibt da einen Mann in Linz, einen Nazijäger namens Simon Wiesenthal, der sich eines SS-Informanten bedient.»
«Ich werde das Risiko auf mich nehmen», sagte ich.
«Wenn man in Deutschland spurlos verschwinden wollte», sagte Gebauer vorsichtig, «wäre es wohl das Beste, sich an die Experten zu wenden. Das Bayerische Rote Kreuz versteht es sehr gut, verschwundene Personen zu finden. Ich nehme an, die wissen dort auch einiges darüber, wie sich das umgekehrte Ergebnis erzielen lässt. Ist der Sitz nicht in München?»
Ich nickte. «Wagmüllerstraße», sagte ich.
«Dort müssen Sie einen Priester aufsuchen, Pater Gotovina, und ihm eine einfache Bahnfahrkarte an irgendeinen Zielort in der Nähe vorlegen, in dessen Namen der Buchstabe S zweimal hintereinander vorkommt. Peissenberg vielleicht. Oder Kassel, falls Sie dort in der Gegend wären. Oder auch Essen. Alle anderen Buchstaben müssen Sie durchstreichen, sodass nur noch SS übrig bleibt. Wenn Sie das erste Mal mit dem Pater oder sonst jemandem aus dem Netzwerk sprechen, müssen Sie ihm die Fahrkarte geben. Gleichzeitig müssen Sie fragen, ob er Ihnen an diesem Zielort irgendeine Unterkunft empfehlen kann. Das ist wirklich alles, was ich weiß. Nur eins noch: Man wird Ihnen ein paar scheinbar völlig harmlose Fragen stellen. Auf die Frage, welches Ihr Lieblingskirchenlied ist, müssen Sie antworten: ‹Wie groß bist du›. Den Text des Lieds kenne ich nicht, nur die Melodie. Es ist mehr oder weniger die Gleiche wie beim Horst-Wessel-Lied.»
Ich wollte mich bedanken, aber er wehrte ab. «Vielleicht brauche ich ja eines Tages Ihre
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