Das Janusprojekt
stand ein Mann herum. Durchs Fenster hatte man einen prima Blick auf den Friedensengel auf der anderen Seite der Isar. 1899 zum Gedenken an den Krieg von 70/71 errichtet, hatte er damals schon nicht viel zu sagen gehabt, und seither war es nicht mehr geworden.
Dank meiner detektivischen Fähigkeiten erkannte ich Pater Gotovina, kaum dass ich das Zimmer betreten hatte. Da war einiges, was ihn verriet. Der schwarze Anzug, das schwarze Hemd, das Kruzifix um seinen Hals, der kleine weiße Ring des Kollars. Sein Gesicht erinnerte weniger an Jesus als vielmehr an Pontius Pilatus. Die dicken schwarzen Augenbrauen waren seine einzige Kopfbehaarung. Der Schädel sah aus wie das drehbare Kuppeldach der Göttinger Sternwarte, und die Ohren mit den angewachsenen Ohrläppchen hatten etwas von den Flügeln eines Dämons. Seine Lippen waren fingerdick und seine Nase breit und krumm. Er hatte ein Muttermal in der Größe und Form eines Fünfpfennigstücks auf der linken Wange und Augen von der Farbe des Walnussholzes am Griff einer Walther PPK. Eines dieser Augen spießte mich auf wie eine Schusterahle, und er kam herüber, fast als könne er den Polizisten in mir riechen. Es hätte allerdings auch meine Cognacfahne gewesen sein können. Aber ich hielt ihn so wenig für einen Abstinenzler, wie ich ihn mir bei den Wiener Sängerknaben hätte vorstellen können. Wenn die Medici immer noch Päpste gezeugt hätten, dann hätten sie so ausgesehen wie Pater Gotovina.
«Kann ich Ihnen helfen?», fragte er mit kratziger Stimme, und über den weißen Zähnen zeigten seine Lippen etwas, das wohl zumindest innerhalb der heiligen Inquisition als Lächeln durchgegangen wäre.
«Pater Gotovina?», fragte ich.
Er nickte kaum wahrnehmbar.
«Ich fahre nach Peissenberg», erklärte ich und zeigte meine vorher gekaufte Fahrkarte vor. «Ich dachte, Sie wüssten dort vielleicht eine Unterkunft für mich.»
Er sah nur ganz flüchtig auf meine Fahrkarte, aber seinen Augen entging nicht, wie ich das Wort «Peissenberg» zusammengestrichen hatte.
«Ich glaube, es gibt dort ein sehr gutes Hotel», sagte er. «Den Berggasthof Greitner. Aber der hat um diese Jahreszeit wahrscheinlich geschlossen. Sie sind ein bisschen früh dran für die Skisaison, Herr …»
«Gunther, Bernhard Gunther.»
«Aber es gibt dort eine sehr schöne Kirche, die nebenbei ein außerordentliches Alpenpanorama bietet. Zufällig ist der dortige Priester ein Freund von mir. Vielleicht kann er Ihnen ja weiterhelfen. Wenn Sie heute so um fünf Uhr nachmittags in der Heilig-Geist-Kirche vorbeischauen möchten, gebe ich Ihnen ein Empfehlungsschreiben mit. Aber ich warne Sie, er ist ein begeisterter Musiker. Wenn Sie länger in Peissenberg bleiben, wird er sie in den Kirchenchor pressen. Sie sozusagen für Ihr Mittagessen singen lassen. Kirchenlieder. Haben Sie ein Lieblingskirchenlied, Herr Gunther?»
«Kirchenlied? Ja, ich würde sagen, ‹Wie groß bist du›. Ich glaube, da gefällt mir vor allem die Melodie.»
Er schloss in einer jämmerlichen Imitation von Frömmigkeit die Augen und sagte: «Ja, das ist wirklich ein wunderbares Lied, nicht wahr?» Er nickte. «Dann also bis nachher um fünf.»
Ich ging hinaus und verließ das Gebäude. Ich marschierte durch die Innenstadt, grob in Richtung Heilig-Geist-Kirche, genauer in Richtung Platzl und Hofbräuhaus. Jetzt brauchte ich ein Bier.
Mit seinem roten Mansardendach, den rosa getünchten Wänden, den Bogenfenstern und schweren Holztüren hatte das Hofbräuhaus etwas Folkloristisches, fast schon Märchenhaftes. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeiging, rechnete ich halb damit, dass sich der Glöckner von Notre-Dame vom Dach herabschwingen würde, um eine unglückliche Zigeunerin aus der Mitte des kopfsteingepflasterten Platzes zu erretten (sofern es denn noch Zigeuner in Deutschland gab). Aber es hätte ebenso gut Jud Süß sein können, der über dem mittelalterlichen Marktplatz baumelte. So ist München nun mal. Kleingeistig. Ja, sogar ein bisschen rustikal und primitiv. Kein Wunder, dass Adolf Hitler hier angefangen hatte, in einer anderen Bierwirtschaft, dem Bürgerbräukeller in der Kaufingerstraße, nur ein paar Ecken weiter. Aber Hitlers Schatten war nicht der Grund, warum ich so gut wie nie ins Bürgerbräu ging. Ich mochte einfach kein Löwenbräu. Mir war das dunkle Bier im Hofbräuhaus lieber. Und das Essen war dort auch besser. Ich bestellte bayrische Kartoffelsuppe und danach Schweinshaxe mit Kartoffelknödeln und
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