Das Janusprojekt
Schlingen um den Hals auf einen Lastwagen und fuhren dann los. Warzok und ein paar andere laufen heute noch frei herum. Wilhaus’ Frau Hilde – sie wird von den Russen gesucht. Desgleichen ein SS-Untersturmführer namens Grün. Ein Gestapo-Kommissar namens Wepke. Und zwei Unteroffiziere, Rauch und Kepenich.»
«Was hat Wilhaus’ Frau getan?»
«Sie hat Häftlinge ermordet, um ihre Tochter bei Laune zu halten. Als die Russen näher rückten, haben sich Warzok und die Übrigen nach Plaszow abgesetzt und von da nach Groß-Rosen – einem Steinbruchlager bei Breslau. Andere gingen nach Majdanek und Mauthausen. Und von da wer weiß wohin. Wenn Sie mich fragen, Gunther, ist die Suche nach Warzok wie die nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Ich an Ihrer Stelle würde das Ganze vergessen und mir eine neue Auftraggeberin suchen.»
«Dann hat sie ja Glück gehabt, dass sie mich gefragt hat und nicht Sie.»
«Sie muss wirklich gut riechen.»
«Besser als Sie oder ich.»
«Das versteht sich von selbst, Gunther», sagte Korsch. «Die Bundesregierung möchte lieber nicht, dass den Amis irgendetwas Unangenehmes in die Nase steigt. Damit die Investitionen, die hierherfließen sollen, nicht verprellt werden und wir alle vorwärts schauen und ordentlich Geld machen können. Wissen Sie, ich wette, ich könnte Ihnen etwas hier bei der Zeitung besorgen. Die könnten einen guten Privatdetektiv gebrauchen.»
«Für diese netten Undercover-Storys, die niemandem das Frühstück vermiesen? Meinen Sie das?»
«Kommunisten», sagte Korsch. «Das wollen die Leute lesen. Spionagestorys. Storys über das Leben in der Sowjetzone und darüber, wie schrecklich es ist. Enthüllungen über Verschwörungen zur Destabilisierung der neuen Bundesregierung.»
«Danke, Friedrich, lieber nicht», sagte ich. «Wenn es wirklich das ist, was die Leute lesen wollen, müsste ich am Ende noch gegen mich selbst ermitteln.»
Ich legte auf und zündete mir, um besser nachdenken zu können, eine Zigarette am Stummel der letzten an. Das tue ich immer, wenn ein Fall, an dem ich arbeite, plötzlich anfängt, nicht nur mich zu interessieren, sondern auch andere Leute. Leute wie Friedrich Korsch zum Beispiel. Manche Leute rauchen, um sich zu entspannen. Andere tun es, um ihre Vorstellungskraft anzuregen oder um sich besser konzentrieren zu können. Bei mir war es eine Kombination aus allen drei Gründen. Und je länger ich nachdachte, desto deutlicher sagte mir meine Vorstellungskraft, dass ich soeben nicht nur davor gewarnt worden war, einen Fall weiterzuverfolgen, sondern dass dem obendrein noch der Versuch gefolgt war, mich durch ein Stellenangebot zu kaufen. Ich zog noch einmal an meiner Zigarette und drückte sie dann aus. Nikotin war doch eine Droge, oder? Es war ein verrückter Gedanke, dass Korsch mich zuerst warnte und dann zu kaufen versuchte! Es musste die Droge sein, die mich auf solche Ideen brachte!
Ich ging aus dem Haus, um einen Kaffee und einen Cognac zu trinken. Das waren ja auch Drogen. Vielleicht würde ich das Ganze danach anders sehen. Den Versuch war es immerhin wert.
13
Die Wagmüllerstraße mündete in die Prinzregentenstraße, zwischen dem Bayerischen Nationalmuseum und dem Haus der Kunst. Das auf der Seite zum Englischen Garten hin gelegene Haus der Kunst diente jetzt als amerikanischer Offiziersklub. Das Nationalmuseum war nach umfänglichen Wiederaufbauarbeiten gerade neu eröffnet worden, sodass man jetzt die Schätze der Stadt, die eigentlich niemand sehen wollte, wieder besichtigen konnte. Die Wagmüllerstraße lag im Lehel, einem Stadtteil mit vielen ruhigen Wohnstraßen, die für die wohlhabenden Profiteure der industriellen Revolution errichtet worden waren. Das Lehel war immer noch ruhig, aber nur deshalb, weil die Hälfte der Häuser in Trümmern lag. Die andere Hälfte war bereits wiederaufgebaut oder gerade im Wiederaufbau und beherbergte jetzt Münchens neue Wohlhabende. Auch ohne Uniform waren sie leicht zu erkennen: an ihren Igelfrisuren, ihren ewig kaugummikauenden Mündern, ihrem wiehernden Lachen, ihren unmöglich weiten Hosen, ihren schicken Zigarettenetuis, ihren Kodak-Box-Kameras und vor allem ihrem semi-aristokratischen Auftreten – diesem unerschütterlichen Gefühl, etwas Besseres zu sein, das sie alle verströmten wie den Geruch von billigem Rasierwasser.
Der Sitz des Roten Kreuzes war ein vierstöckiges Haus aus gelbem Donaukalkstein. Es lag zwischen einem ziemlich edel aussehenden Geschäft für
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