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Das Janusprojekt

Das Janusprojekt

Titel: Das Janusprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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werden.
    «Leg ihm lieber Handschellen an», sagte der Melonen-Mann. «Falls er auf dumme Gedanken kommt.»
    «Wenn er’s tut, kriegt er damit eins drauf», sagte einer von den anderen und zückte einen Totschläger.
    «Leg ihm trotzdem Handschellen an.»
    Der Hüne, der mich an Gürtel und Kragen hielt, ließ mich kurz los. Das war der Moment, in dem ich mir befahl, davonzurennen. Das Problem war nur, dass meine Beine keine Befehle mehr entgegennahmen. Sie fühlten sich fremd an, wie schon seit ein paar Wochen nicht mehr benutzt. Außerdem hätten sie mir einfach eins über den Schädel gezogen. Das war mir schon einmal widerfahren, und mein Schädel mochte das gar nicht. Also ließ ich höflich zu, dass der Hüne meine Hände in seine Pranken nahm und Metall um meine Handgelenke schnappen ließ. Dann hob er mich ein wenig an, packte mich wieder und katapultierte mich ins Auto wie eine menschliche Kanonenkugel.
    Mein Hut und das Sitzpolster dämpften meinen Aufprall. Während der Hüne hinter mir einstieg, öffnete sich vor meiner Nase die andere Wagentür, und der Gorilla mit dem Totschläger quetschte seine mächtige Hüfte gegen meinen Kopf und schob mich auf den Mittelplatz. Solche Sandwichs mochte ich eigentlich nicht. Der Melonen-Mann stieg vorn ein, und wir fuhren los.
    «Wo fahren wir hin?», hörte ich mich krächzen.
    «Geht dich nichts an», sagte der mit dem Totschläger und zog mir den Hut übers Gesicht. Ich ließ ihn dort, denn der liebliche Haarölduft meines Huts war mir lieber als ihre Bierfahnen und der Geruch von Frittierfett, der ihnen in den Kleidern hing. Ich mochte den Geruch des Innenbands meines Huts. Und zum ersten Mal verstand ich, warum kleine Kinder eine Schmusedecke mit sich herumtragen. Es war ungemein tröstlich.
    Wir fuhren nach Südosten. Das wusste ich, weil der Wagen in Fahrtrichtung Osten gestanden hatte, als ich hineingestoßen worden war. Dann waren wir über die Maximilianbrücke gefahren und rechts abgebogen. Die Reise war schneller zu Ende, als ich erwartet hatte. Wir fuhren in eine Werkstatt- oder Lagerhalle. Ein Lamellentor, das sich vor uns geöffnet hatte, schloss sich hinter uns. Ich brauchte nichts zu sehen, um zu erahnen, wo wir waren. Der süßsaure Geruch von Hopfenmasse, den die drei größten Münchner Brauereien verbreiteten, war ebenso unverwechselbar wie die Bavaria-Statue auf der Theresienwiese. Selbst durch den Filz meines Huts war er so stark und beißend wie der Geruch eines frischgedüngten Felds.
    Die Wagentüren öffneten sich. Jemand fegte mir den Hut vom Gesicht, und ich wurde halb aus dem Wagen gezogen, halb hinausgestoßen. Zu den drei Männern vom Forum war im Wagen ein vierter dazugekommen, und zwei weitere erwarteten uns in einer halbverfallenen Lagerhalle voller kaputter Paletten, Bierfässer und Kästen mit leeren Flaschen. In einer Ecke stand ein Motorrad mit Beiwagen. Vor unserem Auto parkte ein Lkw. Über mir war ein Glasdach, aber das meiste Glas lag unter meinen Füßen. Es knackte wie Eis auf einem zugefrorenen See, als ich zu einem Mann geschleppt wurde, der adretter war als die anderen. Er hatte kleinere Hände, kleinere Füße und ein schmales Schnurrbärtchen. Ich hoffte nur, dass sein Hirn groß genug war, um zu erkennen, wann ich die Wahrheit sagte. Mein Magen war noch immer nicht wieder der alte.
    Dieser Mann trug eine Trachtenjacke mit jagdgrünem Revers und ebensolchen eichblattförmigen Besätzen auf den Taschen. Seine Hosen waren aus grauem Flanell, die Schuhe braun, und er sah aus wie der Führer im Berghof-Ausgehanzug. Seine Stimme war leise und kultiviert, was eine angenehme Abwechslung hätte sein können, wenn mich nicht die Erfahrung gelehrt hätte, dass gewöhnlich die Leisen die schlimmsten Sadisten sind. Das Kriegsverbrechergefängnis in Landsberg war voll von kultivierten Männern mit solch leisen Stimmen. «Sie haben Glück, Herr Gunther», sagte er.
    «Das Gefühl habe ich auch», sagte ich.
    «Sie waren wirklich bei der SS, was?»
    «Ich versuche, nicht damit zu prahlen.»
    Er stand vollkommen still, fast schon stramm, die Arme angelegt wie bei einer Truppenansprache. Er hatte die Haltung und das Gebaren, die Augen und die Sprechweise eines hohen SS-Offiziers. Ein Despot wie Heydrich oder Himmler – einer von diesen Borderline-Psychopathen, die in entlegenen Winkeln des Großdeutschen Reiches Polizeibataillone zu befehligen pflegten. Kein Mann, dem man frech kommen sollte, sagte ich mir. Ein echter Nazi. Ich

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