Das Joshua Gen (German Edition)
würde.
211. Nur eine Zimmernummer auf einem Zettel, den jemand in aller Frühe vor ihre Wohnung gelegt hatte. Jemand, der wollte, dass sie hinter diese Tür sah. Jemand, der es vorzog, anonym zu bleiben. 211. Ein Zimmer in einem Krankenhaus in Manhattan. Lange blickte sie auf die drei Ziffern. Dann legte sie ihre zitternde Hand auf die Türklinke und trat ein.
E in Aufschrei der Überraschung löste sich aus ihrem Mund. Das Grab war ja leer! Der Leib Jesu verschwunden! Maria aus Magdala konnte es nicht fassen. Zweimal durchschritt sie die aus dem Fels gehauene Kammer. Und dann noch einmal. Nichts! Sie musste es sofort Simon Petrus und den anderen Jüngern sagen. Auf der Stelle! Am Eingang stieß sie beinahe mit jemandem zusammen. Erschrocken wich sie ins Grab zurück.
»Was tust du hier, Frau?«
Erleichtert atmete Maria aus. Es war Joseph aus Arimathia, ein reicher Ratsherr und heimlicher Jünger. Ihm gehörte dies Grab, und er hatte beim römischen Statthalter erreicht, dass der Leichnam Jesu dort bestattet werden konnte.
»Was du hier tust, frage ich.«
»Nichts. Nur Blumen wollte ich legen an den Fels vor dem Eingang, und jetzt ist der Fels weg und die Kammer leer! Ich habe nichts damit zu tun, glaubt mir, Herr!«
Der Mann trat ein in die Grabkammer, ging gebückt unter der niedrigen Decke. Er sah in die leere Nische, in die vor zwei Tagen der Leichnam gelegt worden war. Er roch Aloe und Myrrhe, Kräuter, die den Körper in Mengen bedeckt hatten. Den Körper, der nun verschwunden war. Nur das Tuch, das ihn zur Gänze umhüllt hatte, lag noch da, ordentlich zusammengefaltet.
»Waren es Dämonen?«, flüsterte Maria dem Manne zu. Wer sonst könnte einen solchen Fels vom Eingang rollen? Bange sah sie sich um. Es war ihr, als beobachte man sie.
Versteckt hinter dem Gitter der Lüftung bewegten sich lautlos die Linsen der Kamera. Ihr Weitwinkel ermöglichte das Einsehen des ganzen Krankenzimmers. Eine schlanke, junge Frau in einem engen, schwarzen Trenchcoat hatte das Zimmer 211 gerade betreten. Ihr dunkles, kurzes Haar klebte nass an ihrem Kopf. Muss ordentlich regnen da drüben in New York, dachte Garry nur. Er saß allein vor den Überwachungsbildschirmen. Die Stimme in seinem Kopfhörer zischte in die Stille wie eine aufgescheuchte Schlange.
»Wer ist das?! Was tut die da?!«
Garry zuckte zusammen. Eilig zoomte er mit der Kamera auf die junge Frau.
Der metallene Bettrahmen war kalt wie ihre Finger. Und doch ließ sie ihn nicht los. Das war er nun also, der Moment. All die Jahre vergeblichen Hoffens und Wartens plötzlich konzentriert im Zimmer einer Klinik in Manhattan, konzentriert auf diese ein mal zwei Meter Bett. Warum hatte er sie niemals besucht? Wut stieg in ihr hoch. Und große Verzweiflung. Sie sah über das Bett mit dem Mann darin hinweg, sah den Regen am Glas der Fenster hinab laufen und lauschte dem kleinen Mädchen in ihrem Kopf. Das ist nicht mein Vater! Nein! Die junge Frau lächelte traurig. Doch das ist er. Du kennst sein Foto. Nein, der hier ist es nicht! Sieh ihn dir doch an!
Sein Gesicht war aufgedunsen von der Chemotherapie, die Augenbrauen ausgefallen, die Lippen blutleere Striche. Und aus seinem bandagierten Hinterkopf rann trübe Flüssigkeit durch einen dünnen Schlauch in einen Plastikbeutel. Nein! schrie das kleine Mädchen im Kopf der jungen Frau. Das ist nicht mein Vater! Nein, nein, nein!
Sie schloss die Augen, und vor dem Zaun des Kinderheims stand ein großer, lächelnder Mann auf der Straße. Sein volles, dunkelbraunes Haar wehte im Sommerwind, und der warme Blick seiner hellen Augen konnte alle Zäune dieser Welt verschwinden lassen. Ja, das ist er. Das kleine Mädchen seufzte zufrieden, und die junge Frau öffnete wieder die Augen. Der Mann in dem Krankenbett blickte sie an. Dann packte er ihr Handgelenk.
Die fremde junge Frau in dem schwarzen Trenchcoat hatte aufgeschrien, doch nun war wieder alles ruhig dort in dem Krankenzimmer. »Der hält sie immer noch fest«, flüsterte Garry angespannt. Die Überwachungsbildschirme zeigten alle dasselbe Bild. Es leuchtete auf Garrys Gesicht. Ein Sterbender, der sich an eine Lebende klammerte. »Jetzt scheint er ihr etwas sagen zu wollen, sie beugt sich zu ihm und – mein Gott, was tut sie denn da?! Sie schlägt auf ihn ein, immer wieder! Die muss total irre sein, die wird ihn noch umbringen!«
»Halten Sie endlich den Mund, Garry! Stellen Sie das verdammte Mikro lauter – ich muss hören, was er ihr sagt! «
Garry
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