Kirchwies
Kirchwies
Diese Geschichte berichtet vom Dorf Kirchwies, welches »Das Herzlichste« genannt wird. Sie erzählt von seinen Eigenheiten und von denen der Bewohner und schildert den Mord, der die Einwohner verschreckt aufscheuchte und kopflos werden ließ. Sie erzählt, wie es zu dem Mord kam, warum gerade diese Leiche gefunden wurde und nicht eine andere und welche Rolle der Bürgermeister Campari und der Pater Timo dabei spielten. In Kirchwies, einer Insel des Friedens im Voralpenland, ist dies alles wohlbekannt, sehr oft schon erzählt und ausgetratscht worden. Denn der Bayer, wenn er in Fahrt ist, neigt zu Übertreibungen.
Kirchwies ist ein etwas schief geratenes Gebirgsdorf und liegt an einem bauchigen Hang, einen kleinen See zu Füßen und einen dunklen Fichten- und Kiefern-Wald sowie den Berg im Rücken. Metzgerei, Bäckerei, der Uhrmacher, der Schmied, die Dorfwirtschaft, die bezaubernde, von Linden beschattete Dorfstraße mit lüftlbemalten Häusern – neben jedem wächst mindestens ein Obstbaum – reihen sich aneinander und sind in ein Tal mit Weiden und Wiesen und einer Handvoll Bauernhöfen eingebettet. Wo sich der Feldbach und der Kirchbach weiten, öffnet sich der Grünsteinsee. Und hoch droben im dunkelgrünen Wald thront als weißer Fleck das uralte Wieskircherl und schaut aufs Tal hinab.
Warum Kirchwies so heftig begehrt ist? Das ist eine lange Gschicht. Ein neu Zugroaster sagte erst kürzlich wieder: »Ich mag ein Leben mit weitem Blick aus allen Fenstern, ein Leben mit den Jahreszeiten, ein Leben mit Tieren. Ein Leben mit Eis und Schnee im Winter, Krokussen und Amselrufen im Frühjahr, Heuduft und dreißig Grad im Sommer und Pilzsammel- und Wandererlebnissen im Herbst.«
Das ist Kirchwies.
Dazu muss man wissen, dass Kirchwies nicht irgendein Dorf ist. Es ist ein Dorf, wie ein Dorf mit einer Eintausendzweihunderteinundsechzig-Seelen-Gemeinde früher zu sein hatte. Eine Insel des Friedens eben. So wie der Ludwig Thoma solch einen Ort beschrieben und der Spitzweg ihn gemalt hat.
Es gibt zum Beispiel keine Autos und keine Motorräder in der Ortschaft. Der Bierlaster, der zwei- oder dreimal in der Woche die Getränke an die Dorfwirtschaft liefert, ans Kirchwieser Löchl, ist das einzige motorgetriebene Fahrzeug, das sich auf der Dorfstraße rumtreiben darf. Ab und zu, wenn ein Bauer aufs Feld fährt, begegnet man einem Traktor. Die anderen Menschen gehen zu Fuß, nehmen das Fahrrad oder die Kutsche oders Fuhrwerk oder sitzen auf dem Pferd. Wenn sie in die Stadt oder weiter weg wollen, fahren sie mit der Bahn. Der Bahnhof liegt nur fünf Minuten nördlich.
»Herzlichstes Dorf«, den Titel hat Kirchwies vor ein paar Jahren mühelos errungen. Freilich blühen Geranien und Begonien vor allen Fenstern, steht braun-weiß geschecktes Vieh auf grünen Weiden, singen Vögel in den Bäumen, funkelt das Sonnenlicht in Gold und liegt kein Fitzerl Papier auf den Straßerln und in den Gasserln. Die frühere Tankstelle wurde zu einem Blumengeschäft umgerüstet, der nutzlos gewordene Straßenkreisel mit Rosen bepflanzt, und der Fahrradverleiher am Bahnhof kehrt täglich die Bahnsteige, die Treppe und die kurze Unterführung zu Gleis zwei und drei. Für ein »Schönstes Dorf Deutschlands« täte das alles unter Umständen ausreichen, nicht aber für das »Herzlichste Dorf«. Dazu bedarf es mehr.
Die Idee dazu hatte Max Campari, der rührige Bürgermeister von Kirchwies und Sohn eines berühmten Vaters. Warum grüßen wir uns nicht alle freundlich, wenn wir uns auf der Straße begegnen?, hatte er sich vor Jahren gefragt. Nicht, dass er eine Grußpflicht in seinem Ort eingeführt hätte, oh nein. Die Menschen, gleich ob Männer, Frauen, Jugendliche oder Kinder, folgten ihm freiwillig. Er tat ihnen keinen Zwang an.
Guten Morgen, servus, habe die Ehre, hallo, bis später, gute Nacht miteinander – an jeder Ecke wird seither jeder fröhlich und herzlich begrüßt. Fremde sind überwältigt von der Herzlichkeit, mit der sie empfangen werden, und der Sympathie, die ihnen entgegenweht. Sie tragen den guten Ruf von Kirchwies weit hinaus in die Welt.
Keine Autos, keine Motorräder, alle grüßen sich und sind freundlich. Max Campari setzte noch eins drauf: Lautes Fluchen in der Öffentlichkeit kostet zehn Euro.
Selbstverständlich stammte die Idee von Pater Timo. Der hatte es sattgehabt, die Augen ständig um Vergebung flehend zum Himmel zu richten. Himmelherrgottsapperlott! Kreizdeifinoamoi! Scheißdreck,
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