Das juengste Gericht
Mühe. Es geht recht gut. Der Flug hat etwas lange gedauert. Dadurch ist mein Körper ein bisschen steif geworden. Darf ich Sie etwas fragen?«
»Selbstverständlich!«
»Ich habe bei meiner Ankunft hier keine Mädchen gesehen. Nur Jungen. Ihnen ist sicher bekannt, dass ich die beiden Töchter meines Bruders abholen möchte.«
Der Abt schmunzelte. »Ich kann verstehen, dass Sie zur Eile drängen. Bei uns gehen die Dinge ihren Weg nicht so schnell wie in Ihrer Heimat. Sie werden Ihre beiden Nichten morgen in die Arme schließen können. Sie sind nicht hier.«
Beuchert machte ein erstauntes Gesicht. »Das verstehe ich nicht. Ich hatte geglaubt, sie hier in Empfang nehmen zu können.«
Bodhi Bhante schüttelte den Kopf. »Dies ist ein Kloster für Männer. Frauen haben hier keinen Zutritt. Die Jungen, die Sie gesehen haben, sind Schüler unserer Klosterschule. Sie sind alle aus ärmsten Verhältnissen. Wenn sie möchten, können sie Mönche werden. Ansonsten lernen sie einen Beruf oder studieren. Unser Abschluss ist staatlich anerkannt.«
»Ja, aber die Mädchen ...?«
Der alte Mann machte mit erhobener Hand deutlich, dass er mit seinen Ausführungen noch nicht fertig war. »Wir haben Zeit, miteinander zu sprechen. Ihr Rückflug geht nicht schon heute. Unsere Mädchenschulen befinden sich im Norden Indiens. Wir wollten Ihnen nicht zumuten, sich dorthin zu begeben. Nach Ihrer Zeitrechnung leben wir im Mai des Jahres 2003. Wir feiern gerade Buddhas Geburtstag und seine Erleuchtung. In der Himalaya-Region ist es zu dieser Zeit noch sehr kühl. Es fallen viele Flüge aus. Auch wären unsere Möglichkeiten, Sie dort unterzubringen, nicht angemessen gewesen.«
Bodhi Bhante legte eine Pause ein. Beuchert entlastete seinen schmerzenden linken Arm, machte eine Drehbewegung mit dem Körper und stützte ihn mit dem anderen Arm vom Boden ab. Es drängte ihn, weitere Fragen zu stellen. Nach der vorangegangenen Belehrung bevorzugte er jedoch, sich auf das Abwarten zu verlegen.
Der Abt nahm ein neben ihm stehendes Wasserglas in die Hand und trank in langsamen Schlucken. Dann wandte er sich wieder zu Beuchert. »Wir haben die beiden Mädchen in unser Schulheim nach Mysore bringen lassen. Mein Sekretär, der ehrenwerte Mönch Kassapa, wird Sie morgen mit dem Zug dorthin begleiten. Auf der Fahrt passiert die Eisenbahn den Streckenabschnitt, wo Ihr Bruder mit seiner Frau vor über einem Jahr tödlich verunglückte. Sie werden sicher die Stelle sehen wollen.« Beuchert bekam einen heftigen Schweißausbruch, den er weder auf die vorherrschenden hohen Temperaturen und die Luftfeuchtigkeit noch auf die an Bord genossenen Alkoholmengen zurückführte. Er schämte sich. Wahrscheinlich wusste sein zurückhaltendes Gegenüber, dass er der Beerdigung seines Bruders und seiner Schwägerin ferngeblieben war. »Unbedingt. Ich bin noch nie zuvor in Ihrem Land gewesen.«
Bodhi Bhante wiegte den Kopf mehrmals nach rechts und links. »Wir haben natürlich keine Veranlassung, Ihnen Ihre Nichten vorzuenthalten. Zumal es bestimmt einen gewichtigen Grund geben dürfte, warum Sie die beiden Mädchen erst nach einem längeren Zeitablauf nach Deutschland holen wollen. Sie haben sicher die seit dem Unglück verstrichene Zeit benötigt, um in Ihrem Land alle Vorbereitungen für die Aufnahme Ihrer Nichten zu treffen. Immerhin differieren die gesellschaftlichen Verhältnisse im Vergleich zu unserem Land nicht ganz unerheblich.« Beuchert wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn und änderte erneut seine Sitzhaltung. Jetzt hätte er wieder einen Schnaps gebrauchen können. Ob dieser alte Mann etwas ahnte oder sogar wusste, warum er erst jetzt diese Reise unternommen hatte? Ihm war unbehaglich.
Seltsamerweise strahlte dieser Mann, der weit über achtzig Jahre sein musste und ihm unverändert wie ein steinernes Monument gegenübersaß, auf der anderen Seite eine ungeheure Vertrauenswürdigkeit aus.
Wie ein Beichtvater.
»Sehe ich Sie noch einmal, bevor ich in meine Heimat zurückkehre? Oder bleibt dies unser einziges Treffen?«, fragte Beuchert. Der alte Abt lächelte. »Hier bin ich. Ich atme, und Sie atmen. Das ist die Gegenwart. Mehr gibt es nicht. Alles liegt in uns. Folgen Sie dem Pfad.« Er schnipste mit dem Finger und gab dem ihm am nächsten sitzenden Mönch ein unauffälliges Zeichen. Der Mönch betrat den Flachbau und kehrte mit einem schmalen Buch zurück, das er unter einer Verbeugung vor Beuchert auf dem Boden
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