Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das juengste Gericht

Das juengste Gericht

Titel: Das juengste Gericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Scheu
Vom Netzwerk:
saßen abgesondert am Ende des Speisesaals schweigend um ihre Tische und wurden dort bedient. Beuchert wollte auf Kassapa zugehen und ihn nach dem weiteren Programm fragen. Der Mönch bedeutete ihm mit vor den Mund gelegten Zeigefinger zu schweigen und deutete auf einen kleinen leeren Einzeltisch.
    Beuchert setzte sich. Ein kleiner Junge trug sofort das Frühstück auf. Gedünstetes Gemüse und gedämpfte Linsen in einer sehr flüssigen Sauce. Beuchert nippte nur ein wenig und legte dann den Löffel ab.
    Kassapa trat hinzu und wies nach draußen. Vor dem Speisesaal wartete er. »Machen Sie sich bitte fertig. Wir fahren in einer halben Stunde zum Bahnhof. Ein paar Kinder werden Ihr Gepäck holen. Sie kommen bitte zur Ausgangspforte.«
    Der Bahnhof quoll über vor Menschen. Die Saris der Frauen leuchteten in zahllosen Farbkombinationen im strahlenden Sonnenschein. Dagegen nahmen sich die durchgängig im europäischen Stil gehaltenen weißen oder hellblauen Hemden und dunklen Hosen der Männer langweilig aus.
    Mit einer knappen halben Stunde Verspätung traf der bereits übervolle Zug ein. Dem fragenden Blick Beucherts begegnete Kassapa mit einer beruhigenden Geste. Er geleitete Beuchert zu einem Wagen der ersten Klasse und wies ihn in ein reserviertes Abteil. »Die Fahrt dauert etwas mehr als eine Stunde.«
    Beuchert nickte und setzte sich in einen der nachgebenden Polstersessel. Nach fünfzehn Minuten zeigte Kassapa aus dem Fenster. »Hier war der Unglücksort.«
    Irgendwo in seiner Hosentasche fühlte Beuchert den Flachmann. Er hätte einiges darum gegeben, sich unauffällig bedienen zu können. Den Gedanken, die Toilette aufzusuchen, verwarf er. Der Mönch würde es riechen. Zu eng waren die Sessel beieinandergestellt.
    Mit gerunzelter Stirn schaute er aus dem Fenster. Vor seinen Augen floss Blut, krümmten sich Verletzte, lagen überall die zerfetzten Leiber der Toten. In seinen Ohren dröhnten die Schreie der entsetzten Menschen, auf einmal die Stimme seines Bruders. Er hielt sich die Hände vor sein Gesicht und wischte sich über die Augen, als könnte er damit die Bilder auslöschen, die ihn verfolgten. »Hier also. Ich hatte gehofft, alles werde sich regeln. Aber es belastet mich mehr und mehr. Mit Ihrem Abt wollte ich darüber sprechen. Er ging leider nicht darauf ein.«
    »Das verstehe ich nicht. Ich habe Ihr Gespräch mitverfolgt. Er wusste um Ihr Dilemma und hat Ihnen alles Wesentliche gesagt, was es zu sagen gibt. Worauf wollten Sie ihn noch hinweisen?«
    »Am Tag des Zugunglücks hatte meine Frau Karin Geburtstag. Ich weiß es noch so genau, weil ich schon früh das Haus verlassen hatte. Wir haben uns auseinandergelebt. Tags darauf habe ich von dem Tod meines Bruders und dessen Frau erfahren. Ich bin weder zur Beerdigung, noch habe ich einen Gedanken auf das weitere Schicksal der beiden Töchter verwendet.«
    Kassapa saß mit ausdruckslosem Gesicht regungslos in seinem Sessel. Den erwartungsvollen Blicken Beucherts begegnete er gleichmütig. »Das war unserem Abt bekannt.«
    »Dann geschah das Seltsame. Genau ein Jahr später, wieder am Geburtstag meiner Frau. Ich war gerade in einer angespannten Gemütsverfassung. Aus Niedergeschlagenheit habe ich etwas zu viel getrunken. Dann machte ich wohl einen folgenreichen Fehler. Jetzt will ich ihn wiedergutmachen, indem ich die Kinder aufnehme und sie aufziehe. Sie sollen alles haben.«
    Der Mönch lächelte. »Wie anders Sie denken. Sie haben unseren Abt wirklich nicht verstanden. Niemand kann Ihnen vergeben, was Sie getan haben, ganz gleich, worum es sich handelt. Sie meinen, ein Gebet oder eine aufgelegte Hand machen Dinge ungeschehen. Das ist widersinnig. Alles liegt an Ihnen und in Ihnen. Nur Sie sind für sich verantwortlich, im Bösen wie im Guten. So waren die Worte von Bodhi Bhante gemeint.«
    Beuchert schüttelte den Kopf. »Entweder will mich niemand verstehen, oder ich muss wohl immer alle Last alleine tragen. Ich habe Angst vor dem, was kommt.«

1. Kapitel
    Allerheiligen, Mittwoch, der 1. November 2006. Über die nassen Pflastersteine der Haupteinkaufsmeile Frankfurts, der Zeil, bummelte am frühen Morgen ein elfjähriges Mädchen. Sie hatte ein ausgesprochen hübsches Gesicht und war auffällig zierlich, jedoch groß gewachsen. Ihre dichten schwarzen Haare reichten fast bis zur Hüfte. Die Hände hatte sie tief in die Taschen ihrer Jeans vergraben, die Schultern gegen den schneidenden Wind zusammengepresst.
    Die ganze Nacht über hatte es kräftig

Weitere Kostenlose Bücher