Das juengste Gericht
Prolog
Als Wolfgang Beuchert von dem lächelnden Mönch durch die goldlackierte eiserne Pforte der unendlich langen Ziegelmauer gebeten wurde, eröffnete sich ihm ein überwältigendes Bild. Seine Müdigkeit nach dem zehnstündigen Flug von Frankfurt nach Bangalore in Südindien war wie weggeblasen. Von einer Sekunde auf die andere war ihm klar, dass er in eine märchenhafte fremde Welt eingetaucht war.
Schon am Flughafen hatte er einen Vorgeschmack darauf bekommen, was ihn hier erwartete. Als er mit unsicheren Schritten die Gangway betreten hatte, war ihm der am Eingang zur Ankunftshalle wartende kahl geschorene Mann in seiner erdfarbenen Robe aufgefallen. Das musste der ihm telefonisch angekündigte Transportservice zum buddhistischen Kloster der Samsara Society sein.
Der Mönch hatte ihm zur Begrüßung eine Sandelholzkette aus handgeschnitzten Blumenornamenten um den Hals gelegt. Anschließend hatte er ihm den Weg durch ein Ameisenheer von gestikulierenden und marktschreierisch werbenden Taxifahrern gebahnt, bis sie an dem kleinen verbeulten Landrover angelangt waren. Ungläubig hatte er immer wieder nach dem Mönch am Steuer geblickt, der sie mit infernalischem Hupen und atemberaubender Geschwindigkeit zum Ziel gebracht hatte.
Nun stand Wolfgang Beuchert im Innenhof des Klosters und traute seinen Augen nicht. Mehrmals musste er die Brille absetzen und die Gläser abwischen. Der Schweiß lief ihm in Strömen über das füllige Gesicht, so dass von seinem glatt rasierten Kinn ein kleines Rinnsal tropfte. Dort sammelten sich in kurzen Intervallen Tropfen, die auf dem klatschnassen weißen Hemd landeten, das für hohe Temperaturen einfach zu körperbetont geschnitten war.
Vor ihm bildeten etwa einhundert braunhäutige dunkelhaarige Jungens aller Altersstufen nach Größe aufgestellt eine schmale Gasse. Alle trugen saubere helle Hemden und dunkle kurze Hosen. Jeder hielt eine rote Rose in der Hand.
Am Kopf des Spaliers standen zwei Mönche, die ihre zusammengelegten Hände vor das Gesicht hielten und sich vor Beuchert zum Gruß verneigten. Der Junge in der vordersten Reihe nahm vom Boden ein silbernes Tablett auf, das er Beuchert in die Hände drückte. Anschließend begleiteten ihn die beiden Mönche durch den von den Kindern gebildeten Weg. Dabei legte ihm jeder der Buben seine Rose auf das Silbertablett, während sämtliche Kinder gemeinsam ein Lied anstimmten.
Nach dem Ende des Defilees nahm einer der Mönche Beuchert das Tablett ab, während der andere ihn zu einem weiß getünchten Flachbau geleitete, der durch eine Hibiskushecke vom Innenhof abgeschirmt war. Lächelnd kehrte er Beuchert sein Gesicht zu. »Ich bringe Sie jetzt zu Bodhi Bhante, unserem Abt.«
Seitlich vor dem Eingang des Gebäudes saß neben einem mit Buddhafiguren ausgestatteten Schrein ein alter Mönch kerzengerade in einem mit dicken Kissen ausgepolsterten Weidenkorbsessel. Auf einem runden Holztischchen drehte sich gemächlich ein Ventilator, der auf sein Gesicht gerichtet war. Rechts und links von ihm saßen je zehn Mönche im Lotossitz auf dem Boden. Der alte Mönch winkte Beuchert zu sich.
Mit verlegenem Gesichtsausdruck ging Beuchert auf den Abt zu, während sein Begleiter zurückblieb. Als er vor dem alten Mann stand, bedeutete der ihm, auf dem dunkelroten runden Kissen vor seinem Sessel Platz zu nehmen. Mit unsicherem Blick schaute Beuchert auf den Halbkreis der Mönche, die jedoch ihre halb geschlossenen Augen starr zu Boden gerichtet hatten. Er zog die Bügelfalten seiner dunkelblauen Anzughose hoch und ließ seinen Körper mit einem kurzen Seufzer auf das Kissen sinken. Dabei machte er eine leichte Verbeugung zu dem Abt hin.
Der alte Mann setzte ein strahlendes Lächeln auf und sah Beuchert aus wachen Augen an. Er zupfte mit einer raschen Bewegung das Oberteil seiner Robe über der rechten Schulter zurecht.
»Herzlich willkommen im Samsara-Kloster in Bangalore. Hatten Sie eine gute Reise?«
»Danke, ja! Nur der Jetlag steckt mir noch ein wenig in den Knochen. Vielen Dank auch für die großartige Begrüßungszeremonie. Wie geht es Ihnen?«
Bodhi Bhante schien die Frage nicht wahrgenommen zu haben. Mit unveränderter Haltung maß er den sich hin und her räkelnden Beuchert, der Probleme mit der Lage seiner Beine zu beheben versuchte. »Soll ich Ihnen einen Stuhl bringen lassen? Ich hatte vergessen, dass die Europäer an unsere Art des Sitzens nicht gewöhnt sind.«
Beuchert wehrte ab. »Bitte machen Sie sich keine
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