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Das Kainsmal

Titel: Das Kainsmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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Veränderungen. Im positiven Fall entwickeln sich liminale und liminoide Ereignisse zu gesellschaftlichen Versuchslabors, wo die Mitwirkenden mit neuen Formen der Selbstdarstellung oder der Organisation der Gesellschaft experimentieren können.
     
    Ina Gebert, M. A.: Die Lebenden fühlen sich den Toten immer überlegen. Der Tod ist nicht nur die äußerste Form von Erniedrigung, sondern er bietet einer Gemeinschaft auch die Möglichkeit, ihre wahren Gefühle für eine Person gefahrlos auszusprechen. Man lese hierzu die Begräbnisszene in Tom Sawyer, wo die Gemeinde in der Annahme, Tom sei ertrunken, eine Trauerfeier abhält. Ungeachtet der Geringschätzung, die sie dem »Verblichenen« zeitlebens entgegengebracht haben, erzählen diese Leute nun von ihrer Liebe, die sie bisher immer unterdrückt haben. Als Tom Sawyer dann, scheinbar von den Toten zurückkehrend, wieder auftaucht, bricht allgemeiner Jubel aus.
     
    Dr. Erin Shea: Man muss davon ausgehen, dass die örtlichen Behörden genaue Kenntnis haben von den Crash-Partys, doch schreiten sie nicht dagegen ein. Das Ritual hat einen kathartischen Effekt und dient dem Abbau gesellschaftskritischer und antiautoritärer Impulse, indem es die Teilnehmer entweder erschöpft oder zu Krüppeln macht oder durch Tod vollständig beseitigt. Unabhängig vom Ergebnis können die Crash-Partys, auch in finanzieller Hinsicht, als ebenso effektives wie effizientes Programm zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung angesehen werden.
     
    Dr. Christopher Bing: Ein typisches liminales Ritual vollzieht sich in drei Phasen: präliminal, liminal und postliminal. Auf das Phänomen der Crash-Partys angewandt, manifestieren sich diese drei Phasen als das Dekorieren und Zurschaustellen der Fahrzeuge, die eigentliche Jagd und die herbeigeführten Unfälle sowie im Anschluss an einen Unfall die öffentliche Aufführung eines theatralischen Palavers, bekannt als »Auskosten des Unfalls«.
     
    Dr. Erin Shea: In der Crash-Party-Kultur gibt es eine Tendenz, traditionelle liminale Symbole zu untergraben. Die Frau im Hochzeitskleid ist nicht unbedingt eine Braut. Besagte
    »Frau« kann tatsächlich sogar ein Mann sein. Die aufs Dach eines Fahrzeugs geschnallten Möbel haben nichts mit einem Umzug zu tun. Das Fahrschulzeichen deutet nicht auf einen Fahranfänger hin.
     
    Ina Gebert, M. A.: Tom Sawyers rituelle Auferstehung erinnert an die Auferstehung des christlichen Heilands: Ein strahlender Jüngling stirbt und wird wiedergeboren zur Unsterblichkeit. Nicht anders erschafft sich auch die zeitgenössische Kultur ihre Gottheiten. In den vergangenen Jahrzehnten fielen Prominente wie Elvis Presley, Jim Morrison und John Belushi ihrem Erfolg zum Opfer und starben allzu früh. Seither gibt es immer wieder Gerüchte, sie seien noch am Leben. Eine solche Art von Auferstehung mag einerseits lediglich signalisieren, dass die Öffentlichkeit ihr Ableben nicht akzeptieren kann, kann aber andererseits auch als Ausdruck von Trauer und Anerkennung gesehen werden, der dazu dient, das jetzt unsterbliche Individuum mit einer Mythologie zu versehen.
     
    Dr. Erin Shea: Ein Beispiel für Liminalität in der Sprache ist etwa der französische Ausdruck für Dämmerung oder Halbdunkel: »zwischen Hund und Wolf«. Mit demselben Ausdruck werden auch die letzten Lebensmonate eines Menschen bezeichnet, dessen mentale und physische Kräfte bereits stark abgenommen haben. Im Englischen bedeutet der Ausdruck für Dämmerung - »wenn alle Katzen grau sind« - auch die Nivellierung offenkundiger Statuskennzeichen.
     
    Aus dem Essay »Liminalität und Communitas« von Victor Turner: Man könnte sagen, sie werden in einen uniformen Zustand versetzt oder herabgesetzt, um sodann neu entworfen und mit zusätzlichen Kräften ausgestattet zu werden, die sie befähigen, ihre neue Position im Leben zu meistern.
     
    Ina Gebert, M. A.: Rant Casey und Karl Waxman vertreten die jüngste Inkarnation dieses uralten Modells. Beide wurden durch einen gewaltsamen öffentlichen Tod herabgesetzt, und über beide sind Gerüchte im Umlauf, wonach sie nicht nur schlicht noch am Leben, sondern unsterblich sind. Waxman ist angeblich in die Vergangenheit gereist und hat sich, indem er seine Eltern vor dem Zeitpunkt seiner Empfängnis ermordete, in einen permanenten liminalen Zustand versetzt. Casey, nun ja, bei Rant Casey verhält es sich ein wenig anders - bei ihm geht es um Erlösung durch öffentliche Anerkennung und emotionale Zuneigung, die

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