Das Kainsmal

bedenklich nah an seiner Oberlippe. Er schnüffelt daran und sagt: »Pfarrer Curtis Dean Fields.« Er grinst: »Den Muff erkenne ich immer und überall.«
    Rant wirft das Ding in seinen Sack. Er pflückt einen Mösenstöpsel ab, nur mit einem winzigen roten Pünktchen mitten drin. Das Rot sieht im Mondlicht schwarz aus. Rant schnüffelt daran und runzelt die Stirn.
    Er schnüffelt noch einmal, mit geschlossenen Augen, und sagt: »Klar, das ist LouAnn Perry, aber anscheinend nimmt sie jetzt diese Fluortabletten ...«
    Rant hält mir das rote Pünktchen hin, aber ich schüttel den Kopf.
    Bevor irgendein anständiger Bürger aufgetaucht ist, um uns zu helfen, hat Rant unseren ganzen Gartenzaun freigepflückt und jeden Schwanz und jede Möse geraten.
     
    Mary Cane Harvey: Middleton bietet jungen Leuten schrecklich wenig Anregung. Das gesellschaftliche Leben spielt sich entweder im kirchlichen oder im schulischen Rahmen ab. Im Gemeindesaal gibt es jedes Wochenende ein geselliges Beisammensein, im Frühjahr auch schon mal einen Tanzabend und in den Ferien einen Kunsthandwerkermarkt. Und um Halloween herum organisieren die Pfadfinder ein Spukhaus, um Spenden zu sammeln.
     
    Bodie Carlyle: Rant Casey hatte einen Geruchssinn wie ein Hund. Ein Bluthund in Menschengestalt, er konnte alles aufspüren. Wenn er nachts längere Zeit draußen gewesen war, konnte er sogar noch besser riechen. Und da er der beliebteste Junge in der ganzen Schule war, konnte er jedem Geruch den richtigen Namen zuordnen. Und in der zwölften Klasse fing es dann an, dass er alle diese Talente auch zu seinem Vorteil nutzte.
    »Sieh dir das an«, sagt Rant und zeigt mir ein kleines weißes Kissen mit einer roten Blüte in der Mitte. Winzig wie ein Veilchen. Ohne daran zu schnüffeln, sagt er: »Miss Harvey.« Die Englischlehrerin.
    Der Wind weht uns das Heulen unsichtbarer Hunde um die Ohren.
    Dass es Miss Harvey ist, erkennt er an der roten Form. »Ein Mösenabdruck«, sagt Rant und fährt mit einem Finger um den roten Fleck herum. »Hundertmal persönlicher als ein Fingerabdruck.« Der Fleck, sagt er, sieht exakt aus wie ein Kuss ihrer Lippen da unten.
    Man brauchte nicht zu fragen, woher Rant wusste, wie Miss Harvey da unten aussah. Er erkannte sie wie Tierfährten im Schnee oder im Sand. Er konnte dir Phantomzeichnungen aller möglichen Mösen anfertigen. Von Einheimischen oder Durchreisenden. Rant brauchte nur zu sehen, wie weit ein Gummi aufgerollt war, und schon konnte er sich ausrechnen, von welchem Schwanz er kam.
    Hinter uns im Küchenfenster sah man meine Mutter an der Spüle, einen Handrücken in die Seite gestemmt, den Ellbogen hochgereckt, den Telefonhörer seitlich in die Frisur gedrückt. Vielleicht beobachtete sie uns. Wahrscheinlich beobachtete sie uns.
    Rant pflückte noch so ein weißes Ding mit einem dunklen Fleck drauf. Er schnüffelte daran und sah zu unserem Haus hinüber.
    Ich fragte ihn: »Von wem ist das?« und zeigte auf das angetrocknete Blut.
    Dieser neue Mösenabdruck zeigte eine Blüte größer als die von Miss Harvey. Verglichen mit ihrem Veilchen eine Sonnenblume.
    Und Rant machte den Sack auf und sagte: »Vergiss es.« »Komm schon«, sagte ich und griff danach. »Lass mich riechen.«
    Rant warf den sonnenblumengroßen Fleck in seinen Jutesack. Er trat einen Schritt von mir zurück, ging zum Zaun und sagte: »Ich würde meinen, von deiner Mutter.«
    Meine Mutter am Fenster. Ihr Ohr immer noch am Hörer, auf der Suche nach einem Schuldigen.
    Wenn man mit Rant Casey draußen war, schien die Zeit stillzustehen. Und auch jetzt kam es mir wieder so vor. Dieser Augenblick würde für mich in alle Ewigkeit Gegenwart bleiben. Diese Sterne, dieselben alten Sterne, bei denen sich die Leute auch heute noch was wünschen. Der Mond heute Nacht: derselbe Mond wie damals.
     
    Sheriff Bacon Carlyle: Rant Casey läuft also los, zur Kirche. Und in der Zeit, die wir brauchten, bis wir bei Esther angekommen waren, hatten die Hunde sie schon gefunden. Irenes Mama. Sie haben nicht viel von ihr übrig gelassen. Scheußlich.
     
    Bodie Carlyle: Ich weiß nicht, ob Rant Casey jemals meine Mutter gefickt hat, ich hatte jedenfalls nicht den Mumm, ihn danach zu fragen.

4
Falsche Sterne
     
    Echo Lawrence (

Party-Crasher): Bevor Rant in den Kindergarten kam, steckte ihn seine Mutter jeden Mittag, wenn der kleine Zeiger der Küchenuhr auf der Zwei stand, ins Bett. Er schlief zu der Zeit schon in einem normalen Bett. Und er durfte erst wieder