Das Kainsmal
Simms:
Wenn es auf Erntedank zuging, kam zu dem einfachen »vergessenen« Kaffeebecher ein glänzend braun lackierter Truthahn aus Pappmache hinzu. Überschwappende Kelchgläser mit Rotwein. Salz- und Pfefferstreuer. Und Messingständer mit langen weißen Kerzen, auf denen batteriebetriebene Flammenbirnchen flackerten. Ein Team, das einen solchen Aufwand betrieb, signalisierte damit gewöhnlich, dass es das betreffende Fahrzeug zum letzten Mal benutzte: um Geschirr mit Süßkartoffeln und grünen Bohnen auf dem Dach zu montieren, mussten Dutzende von Löchern gebohrt werden.
Zu solchen kunstvoll gestalteten Fahrzeugverabschiedungen - bekannt als Bestattungen oder Letzte Rennen - trafen die Teams mindestens eine Stunde vor dem Fenster auf dem so genannten Spielfeld ein. Bis zum offiziellen Beginn des Spiels stellten diese Wagen dann stolz ihre Dekorationen zur Schau -ein würdevolles letztes Lebewohl, bevor sie nach dem Spiel dieser Nacht auf dem Schrottplatz landen würden.
Shot Dunyun: Der Drehbuchschreiber in mir war immer noch auf der Suche nach Ereignissen, die es wert waren, aufgezeichnet zu werden. Ich griff nach dem Port an meinem Hinterkopf, bereit, ihn einzuschalten. Um eventuell einen interessanten Moment meines Bewusstseins festzuhalten. Den Anblick eines rostigen Autos. Oder wie Rant vor sich hin lächelt, wenn von Echo nichts als ihr Hintern unter einer halb aufgeklappten Motorhaube zu sehen ist und sie mit von Öl und Blech gedämpfter Stimme sagt: »Diese Drosselklappe ist im Arsch.«
Ein paar Wracks weiter steht eine verbeulte Limousine bis zu den Felgen im Matsch. In Glitzer-Nagellack-Rosa steht auf dem Kofferraumdeckel: »Kirschbombe III«. Und neben dem Wrack steht Tina Something.
Als Tinas Finger sich zu Fäusten ballen und sie durch den Schlamm auf Echos Hintern zustapft, schalte ich meinen Port ein, um das anstehende Blutbad aufzuzeichnen.
Aus den Aufzeichnungen von Green Taylor Simms: Wie bereits erwähnt, waren Baumnächte die spektakulärsten Veranstaltungen dieser Art. Zu diesen seltenen Inszenierungen kamen alte und neue Autos frühzeitig zusammen und ließen sich erst einmal bewundern. Ursprünglich wurde dabei ein Weihnachtsbaum aufs Dach des Fahrzeugs gebunden, was den Anschein erweckte, man sei eine glückliche Familie auf dem Heimweg vom Wald oder vom Verkaufsplatz an der Ecke. Ähnlich jedoch wie der schlichte Kaffeebecher sich zu einer kompletten Festtagstafel gemausert hatte, wurde ein schlichter Tannenbaum bald schon nicht mehr als hinreichend erachtet.
Zur Anwendung kamen selbstverständlich nur künstliche Bäume, die der Länge nach mit durch die Stoßstangen geführten Seilen auf dem Dach befestigt wurden, gewöhnlich so, dass der Stumpf über die Windschutzscheibe ragte. Schon in der ersten Baumnacht schmückten die Teams ihre Zweige mit Lametta. An die Spitze wurde mit Draht ein leuchtender Stern gebunden, der schaukelnd überm Kofferraum hing. Mit Draht oder Klebstoff brachte man weiteren Zierrat an. Bis zu zwei Stunden vor dem Fenster einer Baumnacht führen die Party-Crasher ihre Wagen vor. Bunte Lämpchen blinken, den Strom liefert ein Kabel, das an den Zigarettenanzünder oder die Elektrik des Wagens angeschlossen ist. Aus allen Autoradios dröhnen Weihnachtslieder. Sobald das Spielfenster sich öffnet, geht die Weihnachtsbeleuchtung aus. Die Autoradios verstummen. Die Teams verteilen sich, und die Jagd beginnt.
Shot Dunyun: Der Auktionator sagt:» ... vierzig Dollar. Höre ich vierzig Dollar? Kommt schon, Leute, da kostet ja schon einmal volltanken mehr. Höre ich dreißig Dollar ...?«
Echo steckt bis zu den Schultern im Motor eines Autos, ihr Gesicht Wange an Wange mit einem Ventildeckel, als Tina Something hinter ihr auftaucht und sagt: »Hey, Hure!«
Rant hat beide Ellbogen auf den Kotflügel gestützt und sieht Echo zu.
Der Auktionator sagt: »Höre ich fünfundzwanzig? Fünfundzwanzig Dollar ... ?«
Und Tina sagt: »Hör auf, mir falsche Fouls anzuhängen.« Tina sagt zu Echos Hinterteil: »Wenn du mich aus dem Rennen kickst, häng ich dir demnächst auch mal was an.«
Aus den Aufzeichnungen von Green Taylor Simms: Ist die Weihnachtsbeleuchtung ausgeschaltet, werden die Baumautos zu schwarzen, zottigen ... Ungeheuern. Nur das leise Klingeln der Glas- und Kristallkugeln verrät dem aufmerksamen Beobachter, womit er es zu tun hat. Ein Team fährt vielleicht an einem dunklen Strauch vorbei, und plötzlich strahlt dieser im Rückspiegel in
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