Das Kainsmal
sabberte, dass ihm das Zeug am Kinn nur so runterlief. Anfassen ist nicht erlaubt, aber er hält mir einen Fünf-Dollar-Schein hin, längs gefaltet, als ob er ihn mir zwischen die Zehen stecken will. Er war Lkw-Fahrer, wenn ich mich recht erinnere.
Früher, als ich noch alle zehn Zehen hatte, habe ich mir die Nägel französisch pedikürt. Wenn ich heutzutage in einen Pediküresalon gehen und mir die Schuhe ausziehen würde, würden die Angestellten schreiend davonlaufen.
Dr. Phoebe Truffeau: Am Ende des Latenzstadiums, im Tertiärstadium, schwächt Syphilis die Wände der Blutgefäße, was letztlich zum Tod durch Herzversagen oder Schlaganfall führt. Die Krankheit dringt auch ins Zentralnervensystem vor und zerstört das Gehirn. Zu den Symptomen zählen Persönlichkeitsveränderungen, manischer Optimismus und gesteigerte Erregbarkeit sind zu beobachten, gefolgt von progressiver Paralyse und Demenz. Diese Hyperaktivität, gepaart mit den Beeinträchtigungen durch die erwähnten Hirnschäden, treibt manche Erkrankte zu verstärkter, zwanghafter sexueller Betätigung, was für die weitere Verbreitung der Syphilis sorgt und ihr im Volksmund den Namen »Lustseuche« eingebracht hat.
Carlo Tiengo: Viv streckt also ihren Fuß aus wie immer, wenn sie ein Trinkgeld entgegennimmt. Für sie ist der Sabberer bloß ein Perverser, der am Zahltag nach der Arbeit kurz mal vorbeischaut. Er steht von seinem Hocker auf und beugt sich über den Bühnenrand. Viv setzt sich, stützt sich hinten mit den Händen ab und hält ihm einen Fuß vors Gesicht, wie die Perversen es mögen. Und plötzlich schreit sie.
Vivica Brawley: Hier, an meinem rechten Fuß fehlen drei Zehen. Weiter hat er den Mund nicht aufbekommen. Der Glatzkopf. Er packt mit beiden Händen meinen Fuß und beißt zu, und ich schreie nach Bernie. Carlo steht untätig hinter der Bar. Mit meinem anderen Fuß trete ich dem Glatzkopf gegen die Stirn, in die Augen. Und in dem Moment packt Bernie ihn von hinten an den Schultern und reißt ihn rum.
Das Geräusch, das seine Zähne machen, dieses Krachen höre ich immer noch. Seit dieser Sekunde sieht mein Fuß so aus, wie er jetzt aussieht.
Dr. Phoebe Truffeau: Vor 1564 hatte Iwan der Vierte, der erste Zar von ganz Russland, seinen Untertanen das Recht auf freie Meinungsäußerung gewährt. Iwan nahm Bittschriften aus allen Schichten der Bevölkerung entgegen, und selbst der ärmste Bürger hatte Zugang zum Hof. Von seinen drei Söhnen starb einer mit sechs Monaten, der zweite war lethargisch und schwachsinnig, und der dritte kam ganz nach seinem Vater, der sich nach und nach den Spitznamen Iwan der Schreckliche verdiente.
Alle drei Söhne litten an angeborener Syphilis. Als die zerebrale Syphilis ihres Vaters nach 1564 weiter fortschritt, ließ er Tausende Bürger durch Verbrennen oder Kochen hinrichten. In Nowgorod verbrachten der Zar und sein Sohn fünf Wochen damit, Gefangene zu Tode zu peitschen, bei lebendigem Leibe zu braten oder unter Eisschollen im Fluss zu ertränken. Am 19. November 1581 erstach der Zar seinen Sohn mit der Stahlspitze seines Speers.
Carlo Tiengo: Benjamin Searle, von den Leuten »Bernie« genannt, war ein Riese. Drei Zentner schwer. Hat mal eine Saison lang bei den Raiders gespielt. Also, Bernie schleuderte den Irren herum. Riss ihn von Vivs Fuß weg zu sich herum, und da haut ihm dieser Irre seine Zähne in den Hals. Genau in die Ader da rein. Die Halsschlagader.
Dr. Phoebe Truffeau: Opfer der Syphilis waren auch Heinrich der Achte von England sowie Karl der Achte und Franz der Erste von Frankreich. Ebenso wie der Bildhauer Benvenuto Cellini, der Maler Toulouse-Lautrec und der Schriftsteller Guy de Maupassant.
Um 1500 war ein Drittel der Einwohner von Paris mit Syphilis infiziert. Erasmus berichtet, dass französische Adlige, die nicht infiziert waren, von den eigenen Standesgenossen als ahnungslos und naiv verunglimpft wurden. 1579 meldet der Arzt William Clowes, dreiviertel der Londoner Bevölkerung seien infiziert.
Vivica Brawley: Seltsam, was man so in Erinnerung behält, aber ich weiß noch, wie ich nach meinem Fuß sehe und da ein Draht raushängt. Ein silberner Draht mit rosa Kunststoff dran. Und eine verrückte Sekunde lang denke ich, ich bin ein Roboter, ein Androide. Und erst allmählich dämmert mir, was los ist ... Aber irgendwie auch nicht. Der Opium-Effekt wirkt noch nach, ich bin high, ich blute, ich stehe unter Schock. Aber ich bin kein
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