Das kalte Gift der Rache
Engel ist?«
Mrs Talbott nahm einen gepflegten Schluck und tupfte sich die Mundwinkel mit der Leinenserviette ab. »Nein, das weiß ich von seiner Webseite.«
»Er hat eine Webseite?«
»Genau das hab ich eben gesagt, oder nicht? Also ich bitte Sie! Ich war fast fünfunddreißig Jahre Bibliothekarin hier in Camdenton. Natürlich bin ich jetzt im Ruhestand, aber mit Computern kenn ich mich trotzdem aus. Ich hab den Namen mal gegoogelt, nur so aus Neugier, wissen Sie. Er hat tatsächlich seine eigene Webseite. Nennt sich engelaufbestellung.com. Was ziemlich abgedroschen klingt, wenn Sie mich fragen. Eigentlich blöd. Wirklich.« Sie rümpfte empört die Nase.
»In seinem Haus gibt es auch den einen oder anderen Engel.« Manchmal neige ich zu Untertreibungen.
»Der reine Betrug, meine Lieben. Stellen Sie sich vor, er behauptet, er könne sich im Auftrag seiner Kunden mit Engeln unterhalten. Einen Chatroom hat er auch und alles.«
Bud lachte, entnahm aber dann Mrs Talbotts finsteren Blicken, dass es ihr sehr ernst war. »Sie machen Witze.«
»Nein, junger Mann, glauben Sie mir. Wenn ich mich recht erinnere, heißt es auf seiner Seite, dass er nicht direkt mit den Engeln seiner Kunden spricht, sondern seine eigenen Schutzengel als Vermittler einsetzt. Diese Nachrichten gibt er dann an die gutgläubigen Einfaltspinsel weiter, die auf so einen Unsinn hereinfallen.«
»Und diese Engelbotschaften lässt er sich gut bezahlen, oder?«
»Natürlich. Ich glaube, achtzig Dollar hat er für das volle Programm angegeben. Er akzeptiert Bargeld und alle gängigen Kreditkarten, und er sagt, er spricht mit Uriel, Michael und Gabriel. In der Bibel sind das alles Erzengel, falls Sie vergessen haben, was Sie in der Sonntagsschule gelernt haben. Ich habe übrigens fast vierzig Jahre lang an der Sonntagsschule unterrichtet.«
Von meinen Pflegeeltern hatten mich die wenigsten auf die Sonntagsschule geschickt, also fragte ich nach: »Gibt es diese Webseite noch?«
»Ich nehm’s an. Sie war verlinkt mit der Schule, an der er arbeitet.«
Bud und ich sahen uns vielsagend an. Das machen wir manchmal. »Was ist das für eine Schule, Ma’am?«
»Die Begabtenakademie Höhlensystem. Kennen Sie die?«
Ich hatte vage davon gehört. »Sie ist konfessionslos, ein Internat für Jugendliche, die Schwierigkeiten haben, richtig?«
»Genau. Superintelligente Kinder wahrscheinlich. Sie ist nordwestlich von hier, tief in den Wäldern«, antwortete Bud. »Ich war mal beruflich kurz dort.«
»Tatsächlich?« Das überraschte mich.
»Ja, ein Schüler war verschwunden. Der Fall klärte sich aber schnell auf. Es stellte sich heraus, dass er den Bus nach Hause genommen hatte, nach Paducah, Kentucky. Seine Eltern haben in der Schule angerufen und gesagt, er wäre gesund und wohlbehalten angekommen. Ziemlich cool dort alles, fast wie an einer schicken Privatschule.«
»Stimmt, und genau dort können Sie alles über Simon Classon erfahren. Die Leute kennen ihn sicher besser als ich. Tatsächlich hab ich ihn ja immer für ein bisschen verrückt gehalten. Und da gibt es Leute, die blättern achtzig schwer verdiente Dollar hin, um Kontakt mit den Engeln aufzunehmen. Was Dümmeres ist mir noch nicht untergekommen.«
Ich sagte: »Wie sieht er denn aus? Sie haben nicht zufällig ein Bild von ihm parat, oder?«
»Leider nein. Aber auf seiner Webseite gleich am Anfang gibt es eins. Er sieht ziemlich gut aus, finde ich. Ein untersetzter Mann, der nicht so viel Wert auf sein Äußeres legt, wie er sollte. Ich hab mehrmals gesehen, wie er am Briefkasten geraucht hat. Er hatte eine dieser langen weißen Zigarettenspitzen wie meine Mutter in den 20er-Jahren. Er dürfte ungefähr in den Dreißigern sein, vielleicht auch Vierzigern, die Haare in diesem Spülwasserblond. Manchmal färbt er sie auch rot oder schwarz. Im Moment, meine ich, ist gerade rot aktuell. Er trägt so eine Pagenfrisur, wie Sie wohl sagen würden. Spricht unablässig, sehr schnell, jedenfalls mit mir. Lässt nie einen anderen zu Wort kommen. Ich würde mich nicht wundern, wenn er einer dieser Junkie-Typen wäre, wie man sie in CSI: Den Tätern auf der Spur sieht.«
»Ist Ihnen mal aufgefallen, dass er Drogen nimmt oder weiterverkauft?«
»Nein, aber ich glaube, so etwas würde er doch sowieso nicht in aller Öffentlichkeit tun, oder? Nein, er ist einfach ein Riesenschwindler mit dieser lächerlichen Engelmacke. Ich wette, im Grunde seines Herzens ist er ein Teufel. Wahrscheinlich hat er die
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