Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
entlang, auf der sich nach eingebrochener Dunkelheit keine Fahrzeuge oder Spaziergänger mehr bewegten.
Ich kam am Ortsschild vorbei und konnte wie immer nichts dagegen tun, dass sich dabei eine Erwartung in mir aufbaute. Eine Grenze zu übertreten. Eine Regung, ein spezielles Gefühl zu haben, eine verschüttete Erinnerung, die plötzlich hochkommt. Nie passierte es dann, und die Aussicht, dass es eben nicht passierte, war ja in der Erwartung auf irgendeine Art auch schon enthalten. Trotzdem kam sie jedes Mal, beim Durchschreiten oder Durchfahren der beidseitig an der Straße aufgestellten Ortseingangsbeschilderung, wie zwei dumpfe Schläge auf einer Trommel, schnell nacheinander, und danach dann lange nichts. Erwartung, Enttäuschung, Stille, dann wieder das Geräusch meiner Schritte im Schnee, das hatte ich schon ganz lange nicht mehr bewusst gehört.
Vor den Fenstern der Häuser waren überall die Rollläden heruntergelassen. Die meisten vollständig, manche nur so weit, dass die kleinen Schlitze zwischen den Streben noch offen geblieben waren und aus ihnen schwach das Kunstlicht herausleuchtete. Vogeltränken und Gartenmöbel standen in den Vorgärten, unter der Schneedecke versunken. An der ersten Kreuzung im Ort war offenbar erst kürzlich ein Wegweiser zur Orientierung aufgestellt worden. Das Rathaus war darauf ausgewiesen, das Stadtzentrum, die Strandpromenade, der Hafen, der Sportpark, das Hallenbad, das Finanzamt, ein Naturlehrpfad und, in der Richtung, aus der ich kam, die Gokartbahn.
Es war sehr still im Ort, und von der Küste, von einem sehr kalten Wind landeinwärts getragen, war jetzt das Geräusch der Brandung hörbar. Es klang seltsam unvertraut, wie eine schlechte Digitalaufnahme dessen, was ich hier früher gehört zu haben glaubte. Ein kränkliches Scharren mischte sich in die einrollende Brandung, etwas Zerknirschtes, als schleppte sich jede Welle müde und wund an den Strand und raunte dabei, unzufrieden über diese unendliche Wiederholung.
In der Straße meiner Eltern standen ein paar halb auf dem Fußweg geparkte Autos. Eingeschneit oder nachlässig freigeschaufelt, mit Schnee auf dem Dach und einer Eiskruste auf den Scheiben, aus der oft nur kleine Sichtfenster herausgekratzt waren, für eine kurze Fahrt auf bekannten Wegen.
Ich erreichte unseren Zaun, ihren Zaun, der ihr Grundstück umgibt, das Haus, im Erdgeschoss brannte Licht, in der Küche und in meinem Zimmer im ersten Stock. Sie waren zu Hause, und sie waren wach. Ich ging durch das Tor auf den Weg, den Weg entlang zur Haustür, links vorm Haus ein Baum ohne Blätter, das ist die Blutbuche, dachte ich, die erkenne ich an ihrem Namen.
Nach seiner Ankunft in Chicago trat Louis Link der Holzarbeitergewerkschaft bei, fand Arbeit in einer Fabrik und wurde Delegierter der zentralen Labor Union, die sich zu dieser Zeit im Überredungskampf befand, dafür, dass niemand länger als acht Stunden an einem Tag arbeiten sollte. Für diese Forderung wurden von den Gewerkschaften und Arbeiterverbänden Protestkundgebungen und Streiks im Stadtgebiet und im gesamten Land organisiert, man kam zusammen auf öffentlichen Plätzen, vor den Fabriktoren, in den Frachthäfen, den Knotenpunkten des Güterverkehrs und der Produktion, große Mengen müder, überanstrengter Menschen, eine Kiste, auf der einer stand und sprach und schrie, verschränkte Arme und gesenkte Köpfe, im Frühjahr 1886, als sich viele eingeschworen hatten auf ein Mindestes, was sie alle für sich beanspruchen wollten, immer wieder zusammenfanden, immer wieder von örtlicher Polizei am Zusammenkommen gehindert wurden.
Am 4. Mai 1886, acht Monate nach Louis’ Ankunft in Amerika, als mit Gewalt eine Kundgebung auf dem Heumarkt an der Randolph Street aufgelöst wird, gibt es eine Explosion, eine Bombe, in die Menge der angerückten Polizisten geworfen, danach Schüsse, Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, tagelange Verhöre, einen Prozess und eine Handvoll Schuldiger, die verurteilt werden zum Tod am Galgen.
In der Wohnung des jungen Louis werden Pläne und Material zum Bau von Bomben gefunden, es wurde erkannt und erklärt: Der kam ins Land mit dem Vorsatz, hier einiges zu sprengen.
Mitverantwortlich gemacht und als schuldig verurteilt wurden außerdem Herausgeber von Tages- und Wochenzeitungen für deutsche Einwanderer, Funktionäre der Arbeiterverbände, die erklärten Leiter des organisierten Widerstands wurden ins Cook County Gefängnis eingeliefert, ein Termin wurde
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