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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
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atmen.
    Die Wärter brachten aus dem Aufenthaltsraum der Angestellten einen Sessel, in dem Louis dann noch einige Stunden saß, bis er schließlich ganz zu atmen aufhörte, der Gefängnisarzt offiziell den Tod feststellte und Caring gebeten wurde, das Blatt Papier, auf dem sich die letzten Worte des Häftlings befanden, zum Zweck der Archivierung den Behörden zur Verfügung zu stellen, obwohl sich auf der Rückseite bereits ein paar sehr schöne Skizzen befanden.
    Der Zeichner willigte ein, übertrug noch ein paar der Studien auf ein leeres Blatt Papier und bat dann bei seinem Vorgesetzten Klein darum, nach Hause zurückfahren und die Reinzeichnung am nächsten Tag in der Redaktion abgeben zu dürfen.
    John C. Klein blieb selbst noch lange Zeit im Krankenzimmer stehen, schaute zu, wie Louis aufgebahrt und abtransportiert wurde und verließ erst nach mehrmaliger Aufforderung den Raum und das Gefängnis, lief ein paar Stunden durch die morgendliche Stadt und setzte sich dann, zu Hause angekommen, an seinen Schreibtisch, schrieb und verwarf viele Versuche eines Artikels über die Explosion der vergangenen Nacht, bis er schließlich über einem sehr langen Kommentar zu den Ereignissen einschlief, den er später, nach dem Aufwachen, einmal noch kurz überflog, als unanbietbar für die ungeduldig wartende Redaktion bewertete, woraufhin er ein handschriftliches Kündigungsschreiben aufsetzte und am selben Tag noch die Stadt verließ, ohne jemals wieder zurückzukommen.
    Kleins Vermieter, der sich einige Wochen nach dessen Verschwinden gewaltsam Zutritt verschaffte zur Wohnung am Jackson Boulevard, in der Nähe des Fernbahnhofs, fand den getippten Kommentar noch eingespannt in der Schreibmaschine, die Klein ebenso zurückgelassen hatte wie einen Stapel Bücher, einen braunen Leinenanzug, zwei Paar Lederschuhe und vier weiße Hemden an der Kleiderstange im Schrank.
    Richard schaut mich sehr skeptisch an, als ich ihm erzähle, der Vermieter habe das Blatt aus der Maschine gerissen, im Glauben, es handle sich dabei um einen Abschieds- oder Entschuldigungsbrief an ihn, und dass er ihn in seiner Wut mit großen Gesten den beiden etwas unglücklich aussehenden Packergehilfen, die noch im Eingangsbereich standen und auf Anweisungen warteten, laut vorgelesen habe.
    In diesem Kommentar, der also von der Vermieterstimme durch die staubige Kühle der Wohnung vorgetragen wurde, unternahm John Klein einleitend den Versuch, die Gründe für den Selbstmord einen Tag vor der Hinrichtung herzuleiten aus der Biografie des Gefangenen. Klein hatte bereits den Prozess und Urteilsspruch aufmerksam Bericht erstattend verfolgt und konnte sich auf die autobiografischen Aussagen von Louis aus der Anklagebank und ein paar tagebuchähnliche Notizen für öffentliche Vorträge, die man bei der Verhaftung in seiner Wohnung konfisziert hatte, berufen. Er schrieb von Friedrich Link, dem Einbruch in den vereisten Neckar und dem Zirkelschluss, den der Sohn nicht verkraftet habe – dass die menschenverachtenden Umstände an den Arbeitsplätzen nicht nur für den Tod des Vaters, sondern nun auch für den eigenen verantwortlich sein sollten. Die Worte menschenverachtende Umstände betonte der Vermieter auf besonders angewiderte Weise und sah sich dabei in der Wohnung um, als suche er hier selbst nach Anzeichen dafür. Bedingt durch den Einbruch des Vaters, las der aufgebrachte Vermieter den beiden Gehilfen und der leeren Wohnung aus Kleins unveröffentlichtem Kommentar weiter vor, wagte sich Louis Link nun selbst aufs Eis in diesem menschlichen Winter, dieser sozialen Polarnacht, die über das Land hereingebrochen war, um etwas zu bergen, womit man die Öfen der Frierenden hätte beheizen können. Richard steckt sich einen Finger in den Mund und beginnt am Nagel zu kauen, unter dem Esstisch zuckt sein rechter Fuß sehr schnell hin und her. Er komme nicht umhin, schrieb Klein, in der Sprengung von Louis’ Gesicht einen symbolischen Akt von hell leuchtender Strahlkraft zu sehen. Alles, hörten die Gehilfen den Vermieter ungeduldig weiterlesen, was zum Sprechen, zum Erheben seiner Stimme nötig war, hatte er sich vor seiner Hinrichtung mit der Sprengkapsel aus dem Gesicht gerissen, und wie könnte man anders, als in diesem Akt der Stimmvernichtung eine Aufforderung zu sehen für uns, das Wort zu ergreifen. Anstatt für sich selbst ein abschließendes Plädoyer zu halten, auf einen Freispruch zu drängen, der ja doch nur ein Entlassen in die Ordnung des Unrechts

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