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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
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festgesetzt zur öffentlichen Hinrichtung, 11. November 1887, eine spezielle Konstruktion im Innenhof aufgebaut, leicht erhöht vor einigen Stuhlreihen für die Journalisten und Besucher, da oben dann eine Falltür, ein Strick zu viel, weil sich Louis, in der Nacht zuvor, wie es später heißt, eine Sprengkapsel zwischen die Zähne gesteckt und sie mit seiner Nachttischkerze entzündet hatte.
    Als einzig logische Erklärung, wie er in seiner Zelle an die Sprengladung hatte kommen können, fand man eine von außen hereingeschmuggelte Kiste präparierter Zigarren, zum letztmaligen Rauchen am 11. November vor dem festgelegten Termin bestimmt.
    Ich sehe, wie Richard die Handflächen auf seine Ohren legt und die Augen zukneift. Es geht aber doch noch weiter, sage ich, weil ich natürlich weiß, dass man auch durch zugehaltene Ohren ganz gut hört in diesem stillen Haus.
    Das Haus wurde in den späten siebziger Jahren auf einem lange leer stehenden Baugrundstück nahe der Hauptstraße errichtet. Als die Nutzung des Militärgebietes durch die stationierten Truppen zwar schon auf ihr Ende zuging, davon aber zumindest im Ort noch niemand wusste.
    Die Vorbesitzer und auch später meine Eltern haben seitdem kaum etwas verändert. Und ich dachte mir schon früher, wenn ich wieder hierher zurückkam, dass es nicht nur an der Erinnerung an meine Kindheit liegen kann, wenn mir beim Betreten des Hauses jedes Mal die Zeit stehen bleibt.
    Drei Waschbetonstufen zur Haustür, darüber ein weiß gekalkter Wetterschutz, eine runde Lampe mit aufgeklebter Hausnummer, die Außenhaut aus Wärmedämmstoff, darauf der raue Putz, angestrichen in zwei verschiedenen Grüntönen, Fensterrahmen aus dunkel gebeiztem Holz mit silbernen Handgriffen, ergonomisch geformt, vier Mulden für die Finger einer greifenden Hand. Ein flaches Dach, das über eine kleine Luke aus dem oberen Flur zu erreichen ist und auf dem ein paar Blumenkübel herumstehen. Im Sommer wachsen hier manchmal kleine Birkenbäumchen oder Borstenhirse oder Hirtentäschel oder Greiskraut oder Gänsedistel oder Erdrauch oder Spark, Wicke, Gauchheil – was sich eben gerade zufällig angesät hat im Flug.
    Beim Drücken auf die Klingel schlagen zeitgleich zwei kleine Hämmerchen auf eine Glocke im Erdgeschoss und im oberen Stockwerk. Durch das Riffelglas schien Licht aus dem Flur, von hinten biss mir der kalte Wind in den Nacken, fuhr mit einem sehr kalten Finger ins linke Ohr. Das Haus hat einen warmen Atem. Ich war wirklich sehr weit gelaufen und hielt den Klingelknopf lange gedrückt, damit später keiner sagen konnte, man habe es nicht gehört. Neben dem Wohnzimmerfenster ist auch nach Jahren noch die Spur einer Efeupflanze zu sehen, die da einmal gewachsen und dann vertrocknet war. Wie ein prähistorischer Abdruck, das Fundstück einer Ausgrabung, sind die feinen Linien der Zweige auf der Wandfarbe übrig geblieben. Bevor sich die Tür dann öffnete, hatte ich keine Formeln der Begrüßung oder ein Thema, mit dem sich vielleicht ein Gespräch anzetteln ließ, zwischen mir und den wortkargen Eltern, in meinem Kopf mehr übrig. Nur kurze Visionen von einem aufknisternden Feuer, orangefarbenem Licht, Weichheit, Flausch. In meinem Rücken kippte schon die ganze Welt weg oder brach vielleicht sogar auf, öffnete sich dem Jenseitigen, das einen im Schlaf dann bedrängt mit wirren Bildern. Dahin wollte ich mich aber gar nicht mehr umdrehen und nachschauen, nicht rüber auf die andere Seite der Straße, die unter Umständen bereits umgebaut war auf widersinnige Art. Nur nach vorn ins Helle, das sich mir jetzt zumindest einen Spaltbreit öffnete, genug für einen Kopf und eine rechte Schulter.
    Ein kleiner Junge schaute aus der Türöffnung heraus in die Kälte. Erst dachte ich: Eine sehr alte Person, gebückt und irgendwie eingefallen, von schwacher Haltung, und dann sah ich aber doch einen Jungen, der mich auch sah und mit mir und meinem Anblick überhaupt nichts anfangen konnte.
    Nach einiger Zeit fragte ich ihn, ob denn meine Eltern zu Hause seien, und er schüttelte seinen Kopf. Dann fragte ich ihn, ob denn seine Eltern zu Hause seien, und er sagte: Ich wohne hier allein.
    Es brauchte eine ganze Weile, bis ich das starke Ungerechtigkeitsgefühl, das mich gleich befallen wollte, erfolgreich wegdrücken konnte, der Junge schaute mich an auf eine Art, dass ich ihm erst mal keinen Vorwurf machen konnte. Ein wenig belästigt vielleicht, aber nicht unhöflich. Er war auch, obwohl es ihm schon

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