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Das Karpathenschloß

Das Karpathenschloß

Titel: Das Karpathenschloß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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über das Dorf hinaus begab. Des Dienstags verkehrt nach Sonnenuntergang dort wirklich keine Seele mehr auf den Landstraßen oder Feldwegen.
    Und jetzt sah sich der Doctor Patak nicht allein außerhalb seines Hauses, sondern sogar ganz in der Nähe eines verwunschenen Schlosses, fast drei Meilen entfernt von dem sicheren Dorfe. Hier sollte er aushalten bis zum Morgenrothe des nächsten Tages… wenn er überhaupt ein solches wiedersah! Wahrlich, das hieß doch den Teufel versuchen!
    Noch ganz diesen Vorstellungen hingegeben, sah der Doctor seinen Gefährten ganz unbefangen ein tüchtiges Stück kaltes Fleisch aus dem Rucksacke ziehen, nachdem er sich vorher mit einem herzhaften Schlucke gestärkt hatte. Da meinte er, vorläufig doch nichts Besseres thun zu können, als jenem nachzuahmen, und das that er denn auch. Nur eines Stückes Schinken nebst einer Schnitte Brot bedurfte er, die verlorenen Kräfte wieder zu ersetzen. Doch wenn er damit seines Hungers Herr wurde, seine Furcht und Angst besiegte er jedenfalls nicht.
    »Nun wollen wir aber schlafen, begann da Nic Deck, der sich den Proviantsack am Fuße des Felsblockes schon als Kopfkissen zurechtgelegt hatte.
    – Schlafen, Forstwächter?
    – Natürlich, Doctor! Gute Nacht also.
    – Eine gute Nacht ist leicht gewünscht, ich fürchte nur, daß die heutige ein schlechtes Ende nimmt…«
    Nic Deck, der zum Plaudern nicht in der Laune war, gab keine Antwort. Von lange her gewöhnt, dann und wann im Walde zu nächtigen, suchte er sich, gegen die Steinbank gelehnt, die bequemste Lage und fiel bald in tiefen Schlummer. Der Doctor konnte schließlich nichts thun, als für sich hin zu brummen, als er sah, wie regelmäßig und tief sein Begleiter athmete. Er selbst vermochte freilich – nicht einmal auf wenige Minuten – Gesichts-und Gehörsinn außer Dienst zu stellen. Trotz aller Ermüdung spähte und horchte er nach allen Seiten hin und her. Sein Gehirn wurde eine Beute der ausschweifendsten Trugbilder, wie sie die Qual der Schlaflosigkeit zu gebären pflegt. Doch was wollte er denn bei der jetzt völligen Finsterniß wahrnehmen?… Alles und nichts; die unbestimmten Formen der ihn umgebenden Gegenstände, die über das Himmelsgewölbe hinziehenden Wolken, die kaum erkennbare Steinmasse des Schlosses. Dann waren es wieder die Felsblöcke des Orgallplateaus, die Leben zu bekommen und eine Höllen-Sarabande aufzuführen schienen. Wenn diese sich nun von ihrem Untergrunde ablösten, den Abhang herunterstürmten, wenn sie über die beiden Vorwitzigen hinwegrollten, sie vor dem Thore der Burg, die zu betreten ihnen gestern ausdrücklich verboten worden war, zermalmten – was dann? Hatten sie ihr Schicksal nicht verdient?
    Er hatte sich erhoben, der unglückliche Doctor, und lauschte auf die Geräusche, die sich über diesen hohen Plateaus bemerklich zu machen pflegen, auf jenes beunruhigende Gemurmel, das zugleich wie ein Surren, ein Aechzen und Stöhnen klingt. Er hörte auch, wie die Nyctalopen (Nachtvögel) mit schwerem Flügelschlage über die nahen Felsblöcke strichen, die Strigen, die zur nächtlichen Runde ausgeschwärmt waren, und zwei oder drei Paare jener Schleiereulen, deren Geschrei einer unheimlichen Todtenklage ähnelt. Da krampften sich die Muskeln des beklagenswerthen Mannes schmerzhaft zusammen, daß er sich kaum noch zu rühren vermochte, und in eiskaltem Schweiß gebadet, zitterte er am ganzen Körper, als wäre sein seliges, nein, sein unseliges Ende nahe.
    So schlichen die langen Stunden bis Mitternacht dahin. Hätte der Doctor Patak ein wenig plaudern können, wäre ihm nur dann und wann Gelegenheit gegeben gewesen, ein paar Worte zu wechseln und wenigstens dem Strome seiner Klagen freien Lauf zu lassen, gewiß hätte er sich weniger abgeängstigt.
    Doch Nic Deck schlief – schlief wie ein Murmelthier.
    Jetzt war es Mitternacht, die schlimmste Stunde von allen, die Stunde der Hexen und Geistererscheinungen.
    Was ging denn jetzt da vor?
    Der Doctor hatte sich völlig aufgerichtet und fragte sich, ob er wirklich wach sei oder noch unter dem Einflusse eines Alpdrückens stehe.
    Wahrhaftig, da oben glaubte er nicht nur zu sehen, sondern sah er wirklich seltsame Gestalten, beleuchtet von blendendem Lichtschimmer, die von einer Himmelsgegend nach der anderen schwebten, aufstiegen und herabwallten und sich mit den Wolken senkten. Es sah aus wie Ungeheuer, Drachen mit Schlangenschwanz, wie Hippogryphe mit langen Flügeln, gigantische Kraken, furchtbare

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