Das Kartengeheimnis
im Zimmer übernahmen die Farbe des Flascheninhaltes. Eine Buddhafigur wurde grün, ein alter Revolver blau, ein Bumerang blutrot.
›Ist das die Purpurlimonade?‹ fragte ich noch einmal.
›Die letzten Tropfen, ja. Und das ist gut so, Albert, denn dieses Getränk ist so gefährlich gut, daß die Welt schlimm aussehen würde, wenn man sie im Laden kaufen könnte.‹
Er holte ein kleines Glas und gab einige Tropfen der Limonade hinein. Sie lagen auf dem Grund des Glases und glitzerten wie Schneekristalle.
›Das reicht‹, sagte er.
›Mehr bekomme ich nicht?‹ fragte ich verwundert.
Der Alte schüttelte den Kopf.
›Eine kleine Kostprobe ist mehr als genug, denn der Geschmack eines einzigen Tropfens Purpurlimonade hält für viele Stunden vor.‹
›Dann kann ich vielleicht jetzt einen Tropfen trinken und morgen früh noch einen‹, schlug ich vor.
Der Bäcker-Hans schüttelte den Kopf.
›Nein, nein. Einen Tropfen jetzt – und dann keinen mehr. Dieser eine Tropfen wird dir so gut schmecken, daß du Lust haben wirst, den Rest zu stehlen. Deshalb muß ich ihn wieder auf dem Dachboden einschließen, sobald du gegangen bist. Und wenn ich dir erst über Frodes Patiencekarten erzählt habe, wirst du dich glücklich preisen, daß ich dir nicht die ganze Flasche gegeben habe.‹
›Hast du die Limonade selber probiert?‹
›Einmal, ja. Aber das ist über fünfzig Jahre her.‹
Der Bäcker-Hans erhob sich aus seinem Schaukelstuhl, nahm die Flasche mit den flüssigen Diamanten und brachte sie in sein Schlafzimmer.
Als er zurückkam, legte er mir den Arm um die Schulter und sagte: ›Trink jetzt. Das ist der größte Augenblick in deinem Leben, mein Junge. Du wirst dich immer daran erinnern, aber dieser Augenblick wird niemals mehr zurückkehren.‹
Ich hob das kleine Glas und trank die leuchtende Flüssigkeit. Eine Welle der Lust ergoß sich über mich, sowie der erste Tropfen meine Zungenspitze kitzelte. Erst erkannte ich alles Gute, was ich in meinem jungen Leben je gekostet hatte, dann jagten tausend andere Geschmäcke durch meinen Körper.
Was der Bäcker-Hans gesagt hatte, stimmte: Es begann im Mund, ganz vorne auf der Zungenspitze. Aber dann schmeckte ich Erdbeeren und Himbeeren, Äpfel und Bananen auch in den Füßen und Armen. An der Spitze meines einen kleinen Fingers schmeckte ich Honig, in einem Zeh eingemachte Birnen und im Rücken Eiercreme. Im ganzen Körper spürte ich den Geruch meiner Mutter. Es war ein Geruch, den ich vergessen und den ich doch in all den Jahren seit ihrem Tod vermißt hatte.
Als sich der erste Geschmackssturm gelegt hatte, schien sich die ganze Welt in meinem Körper zu befinden, ja, ich schien der ganze Weltkörper zu sein. Ich spürte plötzlich, daß alle Wälder und Gewässer, Berge und Felder ein Teil meines Körpers waren. Obwohl Mutter tot war, schien auch sie dort irgendwo zu sein...
Als mein Blick auf die grüne Buddhafigur fiel, schien die kleine Gestalt zu lachen. Ich sah mir die beiden gekreuzten Schwerter noch einmal an, die an der Wand hingen – jetzt schienen sie zu fechten. Auf einem großen Schrank stand ein Flaschenschiff, das ich gleich beim Eintritt gesehen hatte. Jetzt schien ich auf dem alten Segelschiff zu stehen – und auf eine üppige Insel in der Ferne zuzuhalten.
›Schmeckt das gut?‹ fragte eine Stimme. Es war der Bäcker-Hans. Er beugte sich über mich und zauste meine Haare.
›Hmm ...‹, sagte ich nur, denn ich wußte nicht, was ich sonst sagen sollte.
Und so ist es noch heute. Ich kann nicht sagen, wie die Purpurlimonade geschmeckt hat, oder wenn, daß sie nach allem geschmeckt hat. Ich weiß nur, daß mir noch immer die Tränen in die Augen treten, wenn ich daran denke, wie gut sie war.
PIK NEUN
... und glaubte immer, seltsame Dinge zu sehen, für die alle anderen blind waren...
Vater versuchte immer wieder, mich ins Gespräch zu ziehen, während ich über die Purpurlimonade las, aber die Geschichte war so spannend, daß ich das Brötchenbuch einfach nicht aus der Hand legen konnte. Ab und zu warf ich aus purer Höflichkeit einen Blick aus dem Autofenster, wenn Vater die schöne Aussicht kommentierte.
»Spitze!« sagte ich dann bloß. Oder: »Großartig!«
Zu den Dingen, die mir Vater zeigte, während ich noch auf Bäcker-Hans’ Dachboden herumschlich, gehörten auch die Straßen- und Ortsschilder auf italienisch. Denn wir fuhren nun durch die italienische Schweiz, und das galt nicht nur für die Namen. Schon als ich noch
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