Das Kartengeheimnis
war mir dieser Gedanke auch schon gekommen. Ich hatte auf der ganzen Welt nur den Bäcker-Hans und seine Bäckerei. Mutter war tot, Vater fragte nicht mehr danach, wann ich kam und ging, und alle meine Geschwister waren aus Dorf weggegangen.
›Ich habe mich schon entschieden, in der Bäckerbranche zu bleiben‹, antwortete ich feierlich.
›Hab ich mir gedacht‹, sagte der Alte nachdenklich. ›Hmm... dann mußt du dich auch gut um meine Fische kümmern. Aber das ist noch nicht alles: Du wirst dann auch über das Geheimnis der Purpurlimonade wachen.‹
›Der Purpurlimonade?‹
›Ja. Und auch von allem andern, mein Junge.‹
›Erzähl von der Purpurlimonade‹, bat ich.
Er hob die weißen Augenbrauen – und flüsterte: ›Die mußt du kosten, mein Junge.‹
›Kannst du mir nicht sagen, wie sie schmeckt?‹
Er schüttelte sein altes Haupt.
›Normale Limonade schmeckt entweder nach Apfelsinen oder Birnen oder Himbeeren – und damit hat sich’s. Bei der Purpurlimonade ist das anders, Albert. Diese Limonade schmeckt nach allem auf einmal und dazu noch nach Früchten und Beeren, in deren Nähe du mit deiner Zunge nie gekommen bist.‹
›Dann schmeckt sie sicher gut‹, sagte ich.
›Hö! Die schmeckt mehr als gut. Normale Limonade schmeckt nur im Mund... zuerst auf der Zunge und am Gaumen, dann ein bißchen noch im Hals. Die Purpurlimonade aber schmeckt auch in der Nase und im Kopf und unten in den Beinen und schließlich sogar in den Armen.‹
›Jetzt machst du Witze‹, sagte ich.
›Meinst du?‹
Der alte Mann sah fast verwirrt aus, deshalb beschloß ich, eine leichtere Frage zu stellen.
›Was hat sie für eine Farbe?‹ fragte ich.
Der Bäcker-Hans fing an zu lachen.
›Du stellst vielleicht Fragen, Junge. Und das ist gut, aber die Antworten sind nicht immer so leicht. Ich muß dir die Limonade zeigen , verstehst du?‹
Der Bäcker-Hans stand auf und ging zu einer Tür, die in sein kleines Schlafzimmer führte. Auch hier stand ein Glas mit einem Goldfisch. Der Alte zog eine Leiter unter dem Bett hervor und lehnte sie an die Wand. Ich entdeckte in der Decke eine mit einem dicken Hängeschloß verschlossene Luke.
Der Bäcker stieg die Leiter hoch und öffnete die Luke mit einem Schlüssel, den er aus seiner Hemdentasche fischte.
›Komm her, mein Junge‹, sagte er. ›Hier ist seit über fünfzig Jahren niemand außer mir gewesen.‹
Ich folgte ihm auf den Dachboden.
Vom Dach her strömte Mondlicht durch ein Fensterchen. Es breitete sich über alte Truhen und Schiffsglocken, die von Staub und Spinnweben bedeckt waren. Aber nicht nur der Mond brachte dem dunklen Bodenraum Licht: Das Mondlicht war blau, aber hier leuchtete auch ein Schimmer aller Regenbogenfarben.
Ganz am Ende des Bodens blieb der Bäcker-Hans stehen und zeigte auf eine Ecke. Und dort – dort stand unter dem schrägen Dach eine alte Flasche. Die Flasche verströmte ein Licht, das so blendend schön war, daß ich mir zuerst die Augen zuhalten mußte. Das Glas der Flasche war blank, aber was in der Flasche war, war rot und gelb, grün und violett, oder alle diese Farben auf einmal.
Der Bäcker-Hans hob die Flasche hoch, und ich sah, daß ihr Inhalt glitzerte wie flüssige Diamanten.
›Was ist das?‹ flüsterte ich schüchtern.
Der alte Bäcker sah plötzlich streng aus: ›Das hier, mein Junge, ist Purpurlimonade. Das sind die letzten Tropfen, die es davon auf der ganzen Welt noch gibt.‹
›Und was ist das?‹ fragte ich und zeigte auf ein Kistchen aus Holz, in dem ein Packen alter, schmutziger Spielkarten lag. Sie waren schon fast ganz zerfallen. Oben auf dem Packen lag die Pik Acht. Ich konnte die Acht oben in der linken Ecke der Karte nur mit Mühe entziffern.
Der Bäcker-Hans legte den Zeigefinger an die Lippen und flüsterte: ›Das sind Frodes Patiencekarten, Albert.‹
›Frodes?‹
›Frodes, ja. Aber die Geschichte erzählen wir an einem anderen Abend. Jetzt nehmen wir beide diese Flasche mit ins Wohnzimmer.‹
Mit der Flasche in der Hand ging der alte Mann zur Luke zurück. Ich fand, er sehe aus wie ein Wichtel mit einer Stallaterne. Der Unterschied war nur, daß sich diese Stallaterne nicht entschließen konnte, ob sie rot oder grün, gelb oder blau leuchten wollte. Sie verspritzte kleine Farbflecken auf dem Dachboden – wie das Licht von hundert winzigen tanzenden Lampions.
Als wir wieder unten im Wohnzimmer waren, stellte er die Flasche auf den Tisch vor dem Kamin. Die exotischen Gegenstände
Weitere Kostenlose Bücher