Das Kartengeheimnis
entfernt lag. »Mini Hotel Baradello« hieß es.
»Olledarab Letoh Inim«, sagte ich, und Vater fragte, wieso ich plötzlich Arabisch spräche. Ich zeigte nur auf das Hotelschild, und er lachte.
Als wir unsere Sachen aufs Hotelzimmer gebracht und Vater an der Rezeption sein Bier getrunken hatte, gingen wir los. Unterwegs ging Vater in einen Laden und kaufte sich zwei Miniflaschen ich weiß nicht was.
Der Jahrmarkt war ganz brauchbar, aber ich konnte Vater nur zur Geisterbahn und zum Riesenrad überreden. Ich selber fuhr außerdem in einer verrückten Berg- und Talbahn mit Looping.
Vom Riesenrad aus sahen wir über die ganze Stadt und weit über den Comer See. Einmal blieb das Rad stehen, als wir gerade ganz oben waren, und schaukelte hin und her, weil neue Fahrgäste zustiegen. Während wir so zwischen Himmel und Erde schwebten, entdeckte ich plötzlich einen kleinen Mann, der unten stand und zu uns hochblickte. Ich sprang auf, zeigte auf ihn und sagte: »Da ist er wieder!«
»Wer?« fragte Vater.
»Der Zwerg«, antwortete ich. »Der, der mir an der Tankstelle die Lupe geschenkt hat.«
»Blödsinn«, sagte Vater, warf aber auch einen Blick hinunter.
»Das ist er«, beharrte ich. »Er trägt genau denselben Hut, und du siehst doch, daß er ein Zwerg ist.«
»Es gibt viele Zwerge in Europa, Hans-Thomas. Und auch viele Hüte. Und jetzt setzt du dich wieder!«
Aber ich war ganz sicher, daß es sich um denselben Zwerg handelte. Und es gab keinen Zweifel: Er schaute zu uns herauf. Als unsere Gondel sich wieder zum Boden hin bewegte, sah ich, daß er blitzschnell zwischen zwei Buden durchschlüpfte und verschwand.
Der Jahrmarkt interessierte mich jetzt nicht mehr, und als Vater fragte, ob ich Autoskooter fahren wolle, lehnte ich höflich ab.
»Ich will mich bloß umsehen«, sagte ich.
Was ich nicht sagte, war, daß ich nach dem Zwerg Ausschau hielt. Vielleicht hatte Vater den Verdacht, daß ich es tat, denn er versuchte mit ungewöhnlichem Eifer, mich in alle möglichen Fahrgeschäfte zu stecken.
Zweimal während unseres Rundgangs drehte Vater den Leuten den Rücken zu und nuckelte an einem der beiden Fläschchen, die er sich gekauft hatte. Ich hatte den Eindruck, er hätte es lieber getan, während ich ein Horrorkabinett oder so besuchte.
Mitten auf dem Jahrmarkt war ein fünfeckiges Zelt aufgebaut. Über dem Eingang stand sibylla, aber ich las das Wort rückwärts.
»Allybis«, sagte ich.
»Wie, was?« fragte Vater.
»Da!« sagte ich und zeigte darauf.
»Sibylla«, sagte Vater. »Das bedeutet Wahrsagerin. Möchtest du dir die Zukunft weissagen lassen?«
Klar, mochte ich. Ich lief sofort auf das Zelt zu.
Vor dem Eingang saß ein wunderschönes Mädchen in meinem Alter. Sie hatte lange schwarze Haare und dunkle Augen; ich hielt sie für eine Zigeunerin. Sie war ein so herrlicher Anblick, daß ich ein heftiges Flattern im Bauch spürte. Aber sie interessierte sich mehr für meinen Vater. Sie blickte zu ihm auf und fragte in holprigem Englisch: »Will you see your future, Sir? Only five thousand Liras.«
Vater gab ihr einen Geldschein und zeigte auf mich. Im selben Augenblick steckte eine ältere Frau den Kopf aus dem Zelt. Sie war die Wahrsagerin, und ich war ein bißchen enttäuscht, daß mir nicht das Mädchen weissagen sollte. Dann wurde ich auch schon ins Zelt geschoben, wo eine rote Lampe von der Decke hing. Die Wahrsagerin hatte sich an einen runden Tisch gesetzt. Darauf standen eine große Kristallkugel und ein Glas mit kleinen glitzernden Goldfischen. Daneben lag ein Kartenspiel.
Die Wahrsagerin zeigte auf einen Hocker, und ich setzte mich. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß mein Vater vor dem Zelt stand, wäre mir gar nicht wohl in meiner Haut gewesen.
»Do you speak English, my dear?« fragte die Frau.
»Of course«, sagte ich.
Jetzt nahm sie das Kartenspiel und zog eine Karte heraus. Es war der Pik Bube, und sie legte ihn auf den Tisch. Dann bat sie mich, nacheinander zwanzig Karten zu ziehen, und als ich sie gezogen hatte, mußte ich sie mischen. Ich tat es, und nun bat sie mich, den Pik Buben dazwischenzuschieben. Danach legte sie die einundzwanzig Karten auf den Tisch, während sie mir fest in die Augen sah.
Die Wahrsagerin legte die Karten in drei Reihen zu je sieben Karten. Sie zeigte auf die oberste Reihe und sagte, die zeige die Vergangenheit, die mittlere die Gegenwart und die unterste die Zukunft. In der mittleren Reihe tauchte wieder der Pik Bube auf; nun lag er neben einem
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