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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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Tempel anzusehen. Vater wollte vor allem deshalb hin, weil dort die großen Philosophen gelebt hatten. Daß Mama Vater und mich überhaupt im Stich gelassen hatte, war schon schlimm genug. Aber daß sie noch dazu nach Athen gegangen war, war für Vater wie ein zusätzlicher Schlag ins Gesicht. Wenn sie sich in einem Land finden wollte, von dem auch mein Vater träumte – dann hätten sie das doch auch zusammen machen können.
    Nachdem Vater zwei saftige Geschichten aus seinem Matrosenleben erzählt hatte, schlief er ein. Ich lag im Bett, dachte an das Brötchenbuch und den seltsamen Bäcker aus Dorf – und ärgerte mich, weil ich das Buch im Auto versteckt hatte. So erfuhr ich in dieser Nacht nichts mehr darüber, wie es dem Bäcker-Hans nach dem Schiffbruch ergangen war. Aber die ganze Zeit vor dem Einschlafen mußte ich an Ludwig, Albert und den Bäcker-Hans denken. Alle drei hatten sie ein schweres Leben gehabt, ehe sie Bäcker in Dorf geworden waren. Was sie verband, waren das Geheimnis der Purpurlimonade und die vielen Goldfische. Und der Bäcker-Hans hatte einen Mann namens Frode erwähnt. Der seltsame Patiencekarten besessen hatte...
    Wenn ich mich nicht sehr irrte, hatte das alles etwas mit Bäcker-Hans’ Schiffbruch zu tun.

PIK DAME
    ... das Geräusch der Schmetterlinge war wie Musik...
    Vater weckte mich früh am nächsten Morgen, was nicht oft vorkam. In den Fläschchen, die er sich auf dem Weg zum Jahrmarkt gekauft hatte, war wohl doch nicht so viel drin gewesen.
    »Heute fahren wir nach Venedig«, sagte er. »Bei Sonnenaufgang brechen wir auf.«
    Als ich aus dem Bett sprang, fiel mir ein, daß ich vom Zwerg und der Wahrsagerin geträumt hatte. Im Traum war der Zwerg nur eine Wachsfigur in der Geisterbahn gewesen, aber dann war er plötzlich lebendig geworden, weil die schwarzhaarige Wahrsagerin ihm tief in die Augen geschaut hatte, als sie und ihre schöne Tochter an ihm vorbeigefahren waren. Im Schutz der Dunkelheit hatte der Zwerg sich davongeschlichen, jetzt trieb er sich in der ständigen Angst in Europa herum, irgendwer könnte ihn erkennen und wieder in die Geisterbahn zurückschicken. Dann nämlich würde er abermals zur leblosen Wachsfigur werden.
    Bis ich mir diesen seltsamen Traum aus dem Kopf geschlagen und meine Hose angezogen hatte, war Vater schon startbereit. Ich fing an, mich auf Venedig zu freuen. Dort würden wir zum ersten Mal auf unserer langen Reise das Mittelmeer sehen. Ich hatte dieses Meer noch nie gesehen, und Vater hatte es zuletzt als Seemann erlebt.
    Wir gingen in den Speisesaal und führten uns das laue Frühstück zu Gemüte, das man überall südlich der Alpen bekommt. Noch vor sieben Uhr saßen wir im Auto, und als wir losfuhren, stieg eben die Sonne über den Horizont. Vater setzte die Sonnenbrille auf und sagte: »Diesen scharfen Stern haben wir jetzt wohl den ganzen Vormittag vor der Nase.«
    Die Fahrt nach Venedig führte durch die Poebene, einen der fruchtbarsten Landstriche auf der ganzen Welt. Das kommt natürlich vom vielen frischen Alpenwasser.
    Im einen Augenblick passierten wir üppige Apfelsinen- und Zitronenhaine, im nächsten waren wir umgeben von Zypressen, Oliven und Palmen. In feuchteren Gegenden sahen wir riesige Reisfelder zwischen hohen Pappeln. Und überall am Straßenrand wuchs roter Mohn. Er leuchtete so grell, daß ich mir ab und zu die Augen reiben mußte.
    Ziemlich bald erreichten wir einen Hügelkamm und blickten auf eine Ebene mit so üppigen Farben, daß ein armer Landschaftsmaler seinen ganzen Malkasten auf einmal hätte benutzen müssen, um ein wahrheitsgemäßes Bild zu bekommen.
    Vater hielt an, sprang am Straßenrand aus dem Auto und rauchte eine Zigarette, während er seine Gedanken für einen seiner Minivorträge zusammenraffte.
    »Das alles sprießt hier Jahr für Jahr aus dem Boden, Hans-Thomas: Tomaten und Zitronen, Artischocken und Walnüsse – und tonnenweise grünes Chlorophyll. Kannst du begreifen, wie die schwarze Erde das alles nach oben pumpen kann?«
    Er blieb stehen und blickte auf das Wunder der Schöpfung.
    »Was mich vor allem beeindruckt, ist, daß dies alles aus einer einzigen Zelle herstammt. Irgendwann vor mehreren Milliarden von Jahren ist ein kleines Samenkorn entstanden, das sich dann geteilt hat. Und im Laufe der Jahre verwandelte das kleine Samenkorn sich in Elefanten und Apfelbäume, Himbeeren und Orang-Utans. Verstehst du das, Hans-Thomas?«
    Ich schüttelte den Kopf, und er legte wieder los. Es folgte eine

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