Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
Vom Netzwerk:
Oder rede ich zu erwachsen?‹
    Ich antwortete, daß ich alles verstünde, und wir gingen ins Haus mit den vielen seltsamen Dingen aus allen Winkeln der Welt. Wir setzten uns wie am Vorabend vor den Kamin. Auf dem Tisch standen zwei Gläser. Der Bäcker-Hans schenkte aus einer alten Karaffe Blaubeersaft ein.
    ›Ich wurde in einer kalten Winternacht im Januar 1811 in Lübeck geboren‹, begann er. ›Es war mitten in den langen Napoleonischen Kriegen. Vater war Bäcker, und auch ich fing eine Lehre an, entschloß mich aber früh, zur See zu fahren. Im Grunde war ich wohl dazu gezwungen. Wir waren acht Kinder, und Vaters kleine Bäckerei konnte uns nur mit Mühe alle ernähren. Mit nicht ganz sechzehn Jahren – im Jahre 1826 – musterte ich in Hamburg auf einem großen Segelschiff an. Das Schiff war ein Vollschiff aus der norwegischen Stadt Arendal und hieß Maria .
    Die Maria war über sechzehn Jahre lang mein Zuhause und mein Leben. Aber dann, im Herbst 1842, segelten wir mit Stückgut von Rotterdam nach New York. Wir hatten eine tüchtige Mannschaft, aber diesmal müssen uns Oktant und Kompaß zum Narren gehalten haben. Ich glaube, wir hatten schon einen zu südlichen Kurs, als wir den Ärmelkanal verließen. Wir müssen auf den Golf von Mexiko zugesegelt sein. Wie das passieren konnte, ist mir noch immer ein Rätsel.
    Nach sieben, acht Wochen auf offener See hätten wir nach allen Berechnungen im Hafen sein sollen, aber noch war kein Land in Sicht. Vielleicht befanden wir uns zu diesem Zeitpunkt weit im Süden von Bermuda. Und dann kam eines Morgens ein Sturm. Im Laufe des Tages nahm der Wind zu, und bald hatten wir es mit einem ausgewachsenen Orkan zu tun.
    Was dann genau passiert ist, weiß ich nicht. Das große Schiff muß in einer der heftigsten Orkanböen gekentert sein. Ich erinnere mich nur bruchstückhaft an den eigentlichen Schiffbruch, so schnell ging alles. Aber ich weiß noch, daß das Schiff umkippte, und ich weiß noch, daß es Wasser aufnahm. Ich weiß auch noch, daß einer meiner Kameraden über Bord ging und in den Wassermassen verschwand. Aber das ist alles. Das nächste, was ich weiß, ist, daß ich in einem Rettungsboot erwache. Und nun – nun ist das Meer spiegelglatt.
    Wie lange ich bewußtlos war, weiß ich noch immer nicht. Es können einige Stunden gewesen sein, aber auch viele Tage. Meine Zeitrechnung beginnt erst wieder, als ich im Rettungsboot erwache. Später habe ich herausgefunden, daß mein Schiff versunken ist, ohne irgendwelche Spuren von Boot oder Mannschaft zu hinterlassen. Ich habe den Schiffbruch als einziger überlebt.
    Das Rettungsboot hatte einen kleinen Mast, und ich fand unter den Brettern am Bug ein altes Segeltuch. Ich hißte das Segel und versuchte, nach Sonne und Mond zu navigieren. Ich dachte, ich müsse irgendwo vor der amerikanischen Ostküste sein, und versuchte, einen westlichen Kurs zu halten.
    So trieb ich über eine Woche im Meer herum und ernährte mich nur von Schiffszwieback und Wasser. Ich bekam nicht einen einzigen anderen Schiffsmast zu sehen.
    Vor allem an die letzte Nacht erinnere ich mich. Über mir funkelten die Sterne wie ferne Inseln, die ich mitdem Segel dieses Bootes nicht erreichen konnte. Ich fand es seltsam, unter denselben Sternen zu sein wie meine Eltern in Lübeck. Obwohl wir dieselben Sterne sahen, waren wir unendlich weit voneinander entfernt. Denn Sterne tratschen nicht, Albert. Denen ist es egal, wie wir unser Leben auf Erden leben.
    Bald würden meine Eltern die traurige Nachricht erhalten, daß ich mit der Maria untergegangen war.
     
    Als früh am nächsten Morgen die Morgenröte am Horizont erschien, entdeckte ich plötzlich weit in der Ferne einen Punkt. Zuerst hielt ich ihn für ein Staubkorn, das mir ins Auge geraten war, aber obwohl ich mir die Augen rieb, bis mir die Tränen kamen, blieb der Punkt unverrückbar, wo er war. Schließlich ging mir auf, daß es sich um eine Insel handeln mußte.
    Ich versuchte, das Boot zur Insel hinzusteuern, und spürte gleichzeitig eine starke Strömung, die von der kleinen Insel, die ich kaum sehen konnte, ausgehen mußte. Ich machte das Segel los, griff zu den soliden Rudern, kehrte meinem Ziel den Rücken zu und legte die Ruder in die Ruderhampen.
    Ich ruderte und ruderte, ohne anzuhalten, aber ich hatte nicht das Gefühl, vom Fleck zu kommen. Vor mir lag das endlose Meer, das zu meinem Grab werden würde, wenn ich die Insel nicht erreichte. Vor fast vierundzwanzig Stunden hatte ich meine

Weitere Kostenlose Bücher