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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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Hause wanderte, hatte ich noch immer den Geschmack der Purpurlimonade im Körper. Einmal schmeckte es am Rand meines einen Ohres plötzlich nach Kirschen, dann wieder am Ellbogen nach einer Prise Lavendel. Im einen Knie konnte allerdings auch reichlich saurer Rhabarbergeschmack auftreten.
    Der Mond war untergegangen, aber über den Bergen sprühten die leuchtenden Sterne Funken – wie aus einem magischen Pfefferstreuer herausgeschüttelt.
    Ich überlegte mir, daß ich ein kleiner Mensch auf Erden war. Aber jetzt, wo ich noch immer die Purpurlimonade in mir spürte, dachte ich das nicht nur: Ich spürte im ganzen Körper, daß dieser Erdball mein Zuhause war.
    Schon jetzt verstand ich, warum die Purpurlimonade auch ein gefährliches Getränk war. Sie hatte einen Durst geweckt, der vielleicht nie mehr ganz gelöscht werden konnte. Ich hatte bereits jetzt Lust auf mehr.
    Als ich wieder unten auf der Waldemarstraße stand, entdeckte ich meinen Vater. Er kam aus dem ›Schönen Waldemar‹ getorkelt. Ich ging zu ihm und erzählte ihm, daß ich den Bäcker besucht hatte. Und er wurde so wütend, daß er mir eine kräftige Ohrfeige verpaßte.
    Jetzt, wo alles andere so gut war, tat dieser Schlag so weh, daß ich in Tränen ausbrach. Und da weinte auch mein Vater. Er fragte, ob ich ihm je verzeihen könne. Aber ich beantwortete ihm die Frage nicht. Ich ging nur mit ihm nach Hause.
    Das letzte, was Vater vor dem Einschlafen sagte, war, daß Mutter ein Engel sei und Schnaps der Fluch des Teufels. Ich glaube, das war überhaupt das letzte, was er zu mir sagte, ehe der Alkohol ihn endgültig ertränkte.
     
    Am nächsten Morgen war ich wieder in der Bäckerei. Weder der Bäcker-Hans noch ich erwähnten die Purpurlimonade. Sie schien nicht ins Dorf zu gehören – sie gehörte in eine ganz andere Welt. Aber wir wußten beide, daß wir nun ein großes Geheimnis miteinander teilten. Hätte er mich noch einmal gefragt, ob ich ein Geheimnis für mich behalten könne, wäre ich entsetzlich traurig gewesen. Aber der alte Bäcker wußte, daß er nicht zu fragen brauchte.
    Der Bäcker-Hans ging in die Backstube hinter dem Laden, um einen Brezelteig anzusetzen. Ich setzte mich auf einen Hocker und starrte den Goldfisch an. Ich konnte mich an ihm nie satt sehen. Er hatte nicht nur so viele schöne Farben, er schwamm auch im Glas hin und her und sprang zitternd im Wasser auf und ab – gelenkt von einem eigenen inneren Willen. Überall an seinem Körper hatte er kleine lebendige Schuppen. Seine Augen waren zwei schwarze Punkte, die sich nie schlossen. Nur sein kleiner Mund öffnete und schloß sich ununterbrochen.
    Selbst das winzigste Tierchen ist eine Person, dachte ich. Dieser Goldfisch, der in seinem Glas herumschwamm, lebte nur dieses eine Mal. Und wenn sein Leben eines Tages zu Ende wäre, würde er nie zurückkommen.
    Als ich wieder auf die Straße gehen wollte – was ich immer tat, wenn ich dem Bäcker einen kleinen Vormittagsbesuch abgestattet hatte –, drehte sich der Alte plötzlich zu mir um und fragte: ›Kommst du heute abend, Albert?‹
    Ich nickte stumm, und er fügte hinzu: ›Ich habe noch nicht von der Insel erzählt – und ich weiß nicht, wie viele Tage ich noch zu leben habe.‹
    Ich drehte mich um und warf mich ihm an den Hals.
    ›Du darfst nicht sterben‹, sagte ich. ›Du darfst niemals sterben!‹
    ›Alle alten Menschen müssen sterben dürfen‹, antwortete er. Er packte meine schmächtige Schulter. ›Aber dann ist es gut zu wissen, daß jemand kommt, der da weitermachen kann, wo man selber aufgehört hat.‹
     
    Als ich an diesem Abend zu Bäcker-Hans’ Haus kam, erwartete er mich am Brunnen.
    ›Ich habe sie zurückgestellt‹, sagte er.
    Mir war klar, daß er von der Purpurlimonade sprach.
    ›Darf ich nie wieder davon trinken?‹ fragte ich.
    Der Alte schnaubte: ›Nein, nie!‹
    Jetzt war er stark und energisch. Aber ich wußte, daß er recht hatte. Ich hatte begriffen, daß ich dieses geheimnisvolle Getränk nie wieder kosten würde.
    ›Jetzt soll die Flasche auf dem Dachboden stehen‹, fuhr er fort. ›Und sie soll erst wieder hervorgeholt werden, wenn ein halbes Jahrhundert vergangen ist. Dann wird ein junger Mann an deine Tür klopfen – und damit ist er an der Reihe, dieses goldene Gebräu zu probieren. Auf diese Weise wird der Rest in der Flasche noch für viele Generationen reichen. Und irgendwann – irgendwann wird der wundersame Bach ins Morgenland fließen. Verstehst du das, mein Sohn?

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