Das Kartengeheimnis
Körpers festgesetzt.
Ich erlebte meinen Körper als etwas Seltsames und Fremdes. Wie konnte ich hier in der Kabine stehen und diese vielen seltsamen Gedanken denken? Wie konnten mir Haut und Haare und Nägel wachsen? Ganz zu schweigen von Zähnen! Ich konnte einfach nicht begreifen, daß in meinem Mund Emaille und Elfenbein wuchsen, daß diese harten Teile ich waren. Aber darüber – darüber dachten die meisten Leute wohl erst nach, wenn sie zum Zahnarzt mußten.
Ich fand es ein Rätsel, wie die Menschen einfach auf der Welt herumwuseln konnten, ohne sich immer wieder die Frage zu stellen, wer sie waren und woher sie kamen. Wie konnte man vor dem Leben auf diesem Planeten einfach die Augen verschließen oder es für selbstverständlich halten?
Die vielen Gedanken und Gefühle, die mich in diesem Augenblick erfüllten, machten mich froh und traurig zugleich. Sie waren schuld, daß ich mich plötzlich einsam fühlte, aber diese Einsamkeit tat nur gut.
Trotzdem freute ich mich, als mein Vater ein heiseres Löwengebrüll ausstieß. Ehe er aus dem Bett sprang, überlegte ich mir, daß es wichtig ist, für alles mögliche offene Augen zu haben, daß es aber nichts Wichtigeres gibt, als mit einem Menschen zusammenzusein, den wir lieben.
»Du bist ja schon auf!« sagte er.
Er schaute aus dem Fenster, als die Sonne gerade über die Meeresoberfläche stieg.
»Da ist die Sonne«, sagte ich.
So begann der Tag, den wir ganz und gar auf See verbringen würden.
KREUZ ACHT
... wenn unser Gehirn so einfach wäre, daß wir es verstehen könnten...
Beim Frühstück kam es zu einer kleinen philosophischen Plauderei. Vater schlug aus Jux vor, das Schiff zu kapern und alle Fahrgäste auszuhorchen, um herauszufinden, ob irgendwer etwas wüßte, das Licht ins Mysterium des Lebens bringen könnte.
»Es ist eine einzigartige Chance«, fuhr er fort. »Dieses Schiff ist wie die Menschheit in Miniatur. Wir sind mehr als tausend Fahrgäste – und wir kommen aus allen Winkeln der Welt. Aber wir sind alle an Bord desselben Schiffes. Wir werden vom selben Kiel getragen...« Er zeigte in den Speisesaal. »Irgendwer muß doch etwas wissen, was wir anderen nicht wissen. Bei so vielen guten Karten in der Hand muß sich doch wenigstens ein Joker finden lassen!«
»Es gibt zwei«, sagte ich und blickte zu ihm hoch. Er verstand genau, was ich meinte, das sah ich seinem Lächeln an.
Schließlich sagte er: »Eigentlich müßten wir uns alle Fahrgäste vorknöpfen und jeden einzelnen fragen, ob sie uns sagen können, warum wir leben. Die das nicht beantworten können, werfen wir einfach über Bord.«
»Und die Kinder?« fragte ich.
»Die bestehen diese Prüfung mit Glanz.«
Ich beschloß, an diesem Vormittag gewisse philosophische Untersuchungen anzustellen. Nachdem ich lange im Schwimmbad geschwommen hatte, während mein Vater eine deutsche Zeitung las, setzte ich mich an Deck und sah mir die Menschen an: Manche schmierten sich gründlich mit fetter Sonnencreme ein, andere lasen französische, englische, japanische oder italienische Taschenbücher. Andere wiederum waren ins Gespräch vertieft, während sie sich Bier oder rote Getränke mit Eiswürfeln einverleibten. Es gab hier auch einige Kinder. Die größten saßen wie die Erwachsenen in der Sonne, die mittleren liefen an Deck hin und her und stolperten über Taschen und Stöcke, die kleinsten quengelten auf irgendwelchen Schößen herum – und ein kleines Baby wurde von seiner Mama gestillt. Mama und Baby waren so unbefangen, als ob sie bei sich zu Hause in Frankreich oder Deutschland in der Küche säßen.
Wer waren all diese Menschen? Wie waren sie entstanden? Und vor allem: Stellte sich außer meinem Vater und mir noch jemand anders solche Fragen?
Ich sah mir jeden einzelnen Menschen an und versuchte herauszufinden, ob er sich auf irgendeine Weise verriet. Wenn es zum Beispiel einen Gott gab, der bestimmte, was alle machten und sagten, dann mußte eine intensive Untersuchung dessen, was sie machten, zu gewissen Ergebnissen führen. Ich konnte mir dabei einen wichtigen Vorteil zunutze machen: Wenn ich ein besonders interessantes Versuchsobjekt fand, konnte es mir erst in Patras entkommen. Es war demnach leichter, die Menschen auf dieser Fähre zu studieren als irgendwelche hyperaktiven Blattläuse oder emsigen Kakerlaken.
Die Menschen fuchtelten mit den Armen, erhoben sich aus dem Liegestuhl und streckten die Beine, und ein alter Mann nahm sich im Laufe einer Minute vier-,
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