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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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fünfmal die Brille ab und setzte sie wieder auf. Es war offensichtlich, daß den Menschen auf dem Schiff nicht klar war, was sie taten, jedenfalls nicht ganz und bis in die kleinsten Bewegungen – also waren sie zwar lebendig, aber sie waren sich nicht ihrer ganzen Lebendigkeit bewußt.
    Besonders spannend fand ich es, wie die verschiedenen Menschen die Augenlider bewegten. Alle zwinkerten natürlich, aber sie zwinkerten nicht gleich oft. Es war ein seltsamer Anblick, wie die kleinen Hautstücke über den Augen sich ganz von selbst hoben und senkten. Ich hatte einmal einen Vogel zwinkern sehen. Es hatte ausgesehen, als würde das Zwinkern von einer eingebauten Maschine reguliert. Und nun fand ich, daß die Menschen auf dem Schiff auf genauso mechanische Weise zwinkerten.
    Einige Deutsche mit dicken Bäuchen erinnerten mich an Walrösser. Sie lagen in den Liegestühlen, hatten weiße Mützen tief in die Stirn gezogen, und das einzige, was sie an diesem ganzen Vormittag taten , außer in der Sonne zu liegen und zu dösen, war, sich einzuschmieren. Vater nannte sie »Bratwurstdeutsche«. Ich dachte erst, sie kämen aus einer deutschen Stadt namens Bratwurst, aber dann erklärte er mir, er habe sie so getauft, weil sie dauernd fette Würste äßen, die »Bratwürste« hießen. Ich fragte mich, was so ein Bratwurstdeutscher wohl dachte, wenn er hier in der Sonne lag. Ich kam zu dem Schluß, daß er wahrscheinlich an Bratwurst dachte. Jedenfalls wies nichts darauf hin, daß sie auch an etwas anderes denken könnten.
    Ich setzte meine philosophischen Untersuchungen noch bis weit in den Nachmittag fort. Vater und ich hatten verabredet, nicht den ganzen Tag zusammenzuhängen. Ich durfte mich also frei auf dem Schiff bewegen; nur über Bord springen durfte ich nicht.
    Ich hatte Vaters Fernglas ausleihen dürfen. Zweimal beobachtete ich damit heimlich andere Passagiere. Das war spannend, denn natürlich durfte ich mich nicht erwischen lassen. Das Gemeinste, was ich tat, war, eine amerikanische Dame aufs Korn zu nehmen, die so verrückt war, daß ich hoffte, sie könnte mich der Antwort auf die Frage, was ein Mensch überhaupt ist, ein Stück näher bringen. Einmal erwischte ich sie dabei, wie sie im Salon in eine Ecke trat; sie sah sich sogar noch um, um sich zu vergewissern, daß niemand sie sah. Ich hatte mich hinter einem Sofa versteckt und spinxte vorsichtig über den Rand, damit man mich nicht entdeckte. Ich spürte ein Kribbeln im Bauch, aber ich hatte keine Angst um mich selber. Statt dessen machte ich mir Sorgen um die Frau. Was zum Kuckuck trieb sie da bloß, was niemand sehen sollte?
    Schließlich sah ich, daß sie ein grünes Schminktäschchen aus ihrer Handtasche zog. Darin hatte sie einen kleinen Taschenspiegel. Zuerst betrachtete sie sich aus allen Winkeln, dann fing sie an, sich mit Lippenstift anzumalen. Mir war sofort klar, daß diese Beobachtung für einen Philosophen von einer gewissen Bedeutung sein konnte, aber das war noch nicht alles: Als sie mit dem Schminken fertig war, begann sie sich anzulächeln. Und damit hörte sie auch nicht wieder auf. Ehe sie ihren Spiegel wieder wegsteckte, hob sie eine Hand und winkte sich im Spiegel selber zu. Gleichzeitig lächelte sie breit und zwinkerte mit einem Auge.
    Als die Frau aus dem Salon verschwand, blieb ich völlig erschöpft in meinem Versteck. Wie kam sie bloß auf die Idee, sich selber zuzuwinken? Nach einigen philosophischen Spekulationen kam ich zu dem Ergebnis, daß sie vielleicht etwas so Seltenes wie ein weiblicher Joker war. Denn wenn sie sich selber zuwinkte, mußte sie sich jedenfalls ihrer Existenz bewußt sein. In gewisser Hinsicht war sie zwei Personen. Sie war einerseits die Frau, die im Salon stand und sich mit Lippenstift anmalte, und andererseits die, die sich selber im Spiegel zuwinkte.
    Mir war klar, daß Menschenversuche eigentlich nicht erlaubt sind, deshalb beließ ich es bei dieser einen Observation. Aber als ich die Frau später an diesem Nachmittag bei einer Bridgepartie entdeckte, ging ich zu ihrem Tisch und bat auf englisch um den Joker.
    »No problem«, sagte sie und gab ihn mir.
    Im Weitergehen hob ich eine Hand und winkte ihr zu; gleichzeitig zwinkerte ich mit einem Auge. Sie war so überrascht, daß sie fast vom Stuhl gefallen wäre. Vielleicht fragte sie sich, ob ich von ihrem kleinen Geheimnis wußte. Wenn ja, sitzt sie jetzt wahrscheinlich immer noch irgendwo in Amerika und hat ein ungutes Gefühl, wenn sie an mich

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