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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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Körper machte ein paar geschickte Bocksprünge.
    „Das läßt sich nicht leugnen, nein. Man soll nichts für selbstverständlich halten.“
    Er sprang einige Schritte zurück.
    „Dann sagen wir erst mal nichts mehr“, sagte er. „Aber wir sehen uns wieder!“
    Damit lief er den Hang hinunter ins Dorf.
    Nun setzte sich der alte Mann neben mich. Von der Bank aus konnten wir auf die vielen farbenfrohen Zwerge hinunterblicken, die zwischen den braunen Holzhäusern herumwuselten.

KREUZ SIEBEN
    ... daß in meinem Mund Emaille und Elfenbein wuchsen...
    Ich las noch bis tief in die Nacht in dem Brötchenbuch. Als ich am nächsten Morgen früh aufwachte, fuhr ich erschrocken hoch. Die Lampe über meinem Nachttisch brannte noch. Mir ging auf, daß ich mit der Lupe und dem Brötchenbuch in der Hand eingeschlafen war.
    Ich war erleichtert, als ich sah, daß Vater noch schlief. Die Lupe lag auf dem Kopfkissen, aber das Brötchenbuch konnte ich nicht finden. Am Ende entdeckte ich es unter dem Bett. Rasch steckte ich es in meine Hosentasche. Nachdem ich so alle Spuren beseitigt hatte, stand ich auf.
    Was ich vor dem Einschlafen gelesen hatte, war so aufregend, daß ich im ganzen Körper eine nervöse Unruhe verspürte. Ich schob die Vorhänge zur Seite und stellte mich ans Fenster. Draußen war nur Meer zu sehen, so weit das Auge reichte. Abgesehen von einigen kleineren Segelbooten sah ich keinerlei Schiffsverkehr. Es war kurz vor Sonnenaufgang. Die Morgenröte hatte sich wie ein schmaler Gürtel zwischen Himmel und Meer geschoben.
    Was mochte es mit dem Geheimnis der vielen Zwerge auf der magischen Insel auf sich haben? Ich konnte natürlich nicht sicher sein, daß das, was ich las, wirklich die Wahrheit war. Aber alles, was ich über Ludwig und Albert in Dorf gelesen hatte, hatte echt gewirkt.
    Es konnte keinen Zweifel daran geben, daß die Purpurlimonade und die vielen Goldfische von der Insel stammten, auf die der Bäcker-Hans geraten war. Und in der kleinen Bäckerei in Dorf hatte ich mit eigenen Augen ein Glas mit einem Goldfisch gesehen. Ich hatte keine Purpurlimonade zu kosten bekommen, aber der alte Bäcker, der mir eine Flasche Birnenlimonade geschenkt hatte, hatte etwas von einer viel besseren Limonade erzählt...
    Und trotzdem konnte alles erfunden sein. Es stand überhaupt nicht fest, ob es überhaupt Purpurlimonade gab, und alles, was im Brötchenbuch stand, konnte pure Phantasie sein. Es war auch nicht weiter verwunderlich, daß der Bäcker in Dorf sein Schaufenster mit einem Goldfisch verschönerte. Aber es war unbestreitbar seltsam, daß er ein Büchlein in ein Rosinenbrötchen eingebacken, das Brötchen in eine Tüte gesteckt und es einem zufällig vorbeikommenden Jungen geschenkt hatte. Auf jeden Fall war es eine ganz schöne Arbeit, ein ganzes Buch mit so kleinen Buchstaben zu füllen. Und immer wieder mußte ich daran denken, daß ich unmittelbar zuvor von einem geheimnisvollen Zwerg eine Lupe bekommen hatte.
    An diesem Morgen beschäftigte mich das Rätsel des Brötchenbuches allerdings nicht allein und nicht einmal in erster Linie. Mein Gemütsaufruhr hatte noch einen anderen Grund: Mir war plötzlich aufgegangen, daß die Menschen auf der Welt genauso bewußtlos waren wie die trägen Zwerge auf der magischen Insel.
    Wir leben unser Leben in einem erstaunlichen Märchen, dachte ich. Trotzdem finden die allermeisten die Welt »normal«. Zum Ausgleich sind sie ewig auf Jagd nach etwas Unnormalem – wie Engeln oder Marsmenschen. Aber das lag nur daran, daß ihnen die Welt nicht als Rätsel erschien. Ich selbst kam mir da ganz anders vor. Ich hielt die Welt für einen seltsamen Traum. Und ich machte gerade Jagd nach irgendeiner vernünftigen Erklärung dafür, was es mit diesem Traum auf sich hatte.
    Während ich so dastand und sah, wie der Himmel zuerst immer röter und dann immer heller wurde, verspürte ich etwas, was ich noch nie zuvor verspürt hatte, ein Gefühl, das mich seither nicht mehr verlassen hat: Wie ich hier vor dem Kabinenfenster stand, kam ich mir vor wie ein geheimnisvolles Geschöpf, das quicklebendig war, das aber trotzdem nichts über sich selber wußte. Ich erlebte, daß ich ein lebendes Wesen auf einem Planeten in der Milchstraße war. Vielleicht war ich mir darüber schon immer im klaren gewesen, denn es ließ sich bei der Erziehung, die ich genossen hatte, kaum übersehen. Aber zum ersten Mal empfand ich es auch selber. Das Gefühl hatte sich in jeder einzelnen Zelle meines

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