Das Kartengeheimnis
Schiff urplötzlich von der spiegelglatten Meeresoberfläche hochgeworfen. Eine Riesenhand schien die Brigg umzudrehen wie – ja, wie ein Korkenzieher. Es dauerte nur einige Sekunden, dann fielen wir wieder nach unten. Wir lagen schief im Meer, und nun verschob sich die Last, und wir nahmen Wasser auf.
Ich habe nur vage Erinnerungen an den kleinen Strand, an den ich mich retten konnte, weil ich mich sofort auf die Wanderung ins Innere der Insel machte. Nach einigen Wochen des Umherstreifens ließ ich mich hier nieder, und seither ist das mein Zuhause.
Ich kam gut zurecht. Hier wuchsen Kartoffeln und Mais, Äpfel und Bananen. Aber es gab hier auch andere Früchte und Gewächse, die ich nie zuvor gesehen und von denen ich auch nie gehört hatte. Kurbeeren, Ringrüben und Gramine wurden zu einem wichtigen Bestandteil meiner Ernährung – ich mußte den vielen fremden Gewächsen dieser Insel selber Namen geben.
Nach einigen Jahren konnte ich die sechsbeinigen Tiere zähmen, die ich Millucken nannte. Sie geben nicht nur eine süße, nahrhafte Milch; ich benutze sie auch als Zugtiere. Ab und zu schlachte ich ein Tier und esse das helle, feine Fleisch. Es erinnert an die Wildschweine, die wir zu Hause in Lübeck immer zu Weihnachten gegessen haben.
Im Laufe der Jahre habe ich mir aus den Pflanzen der Insel auch verschiedene Medizinen für die verschiedenen Krankheiten hergestellt, die mir ab und an zu schaffen machten. Und ich habe verschiedene Getränke gebraut, die der Stimmung aufhelfen. Wie du bald sehen wirst, trinke ich oft etwas, das ich Tuff nenne. Es ist ein leicht bitteres Getränk, das ich aus den Wurzeln der Tufapalme koche. Tuff macht mich wach, wenn ich müde bin und aufwachen möchte – und müde, wenn ich wach bin und lieber schlafen würde. Es ist wohlschmeckend und außerdem ganz und gar ungefährlich.
Aber ich habe auch eine Purpurlimonade hergestellt. Das ist ein Getränk, das im ganzen Körper wunderbar guttut, aber gleichzeitig ist es so tückisch und gefährlich, daß ich froh bin, daß man es bei uns zu Hause nicht kaufen kann. Ich habe es aus dem Blütensaft der Purpurrosen gebraut, einem kleinen Strauch mit winzigen purpurroten Rosen, der hier überall wächst. Ich brauche die Rosen nicht zu pflücken oder den Saft selber abzuzapfen. Das erledigen Bienen, die hier größer sind als bei uns zu Hause die kleinen Vögel. Sie bauen sich ihre Stöcke in hohlen Bäumen, und dort – dort sammeln sie auch ihre Purpursaftvorräte. Ich brauche mich nur zu bedienen. Wenn ich den Blumensaft mit Wasser aus dem Regenbogenfluß mische, aus dem ich auch meine Goldfische hole, erhalte ich einen glitzernden süßen Saft, der schwach perlt oder braust. Deshalb habe ich ihn Limonade genannt.
Das Verlockende an der Purpurlimonade ist, daß sie nicht nur ein Geschmackserlebnis vermittelt. Nein, das rote Getränk rührt alle Sinnesorgane mit allem an, was ein Mensch überhaupt schmecken kann. Und mehr noch: Die Purpurlimonade schmeckt nicht nur in Mund und Hals, sondern in jeder einzelnen Körperfaser. Aber die ganze Welt in einem einzigen Schluck zu verzehren – das ist nicht gesund, mein Junge. Es ist besser, die Welt in kleinen Portionen zu sich zu nehmen.
Als ich die Purpurlimonade einmal hergestellt hatte, fing ich an, sie täglich zu trinken. Davon besserte sich meine Stimmung, aber leider nur ganz zu Anfang. Nach und nach verlor ich davon das Gefühl für Zeit und Raum. Plötzlich konnte ich irgendwo auf der Insel erwachen, ohne zu wissen, daß ich dorthin gegangen war. Und ich konnte Tage und Wochen umherirren, ohne nach Hause zu finden. Ich konnte vergessen, wer ich war und woher ich kam. Alles, was mich umgab, schien ein Teil von mir selber zu sein. Es begann als prickelndes Gefühl in Armen und Beinen, dann wanderte es weiter in den Kopf – und zum Schluß begann das Getränk, meine Seele anzunagen. Nun ja – ich bin froh, daß ich mit dem Trinken aufhören konnte, ehe es zu spät war. Heute trinken nur noch die anderen hier Purpurlimonade. Und wie es dazu kommen konnte, werde ich noch erzählen.“
Wir hatten, während er erzählte, das Dorf nicht aus den Augen gelassen. Es wurde jetzt dunkel, und die Zwerge zündeten die Öllampen zwischen den Häusern an.
„Es wird langsam kühl“, sagte Frode.
Er stand auf, öffnete die Tür des Hauses, und wir betraten ein kleines Zimmer, dessen Einrichtung deutlich zeigte, daß Frode alles aus Material hatte herstellen müssen, das hier auf der Insel
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