Das Kartengeheimnis
huschte ein rätselhaftes Lächeln über Frodes altes Gesicht.
„Sie altern nicht...“
„Aber...“
„Als ich allein auf der Insel war, wurden meine Traumbilder immer stärker. Und dann schlüpften sie aus meinen Gedanken und stürzten sich hier ins Leben. Trotzdem sind sie noch immer Phantasie. Und Phantasie hat die seltsame Eigenschaft, daß, was darin einmal geschaffen worden ist, für immer gleich jung und lebendig bleibt.“
„Das ist unbegreiflich...“
„Hast du von Rapunzel gehört, mein Junge?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Aber du kennst Rotkäppchen? Oder Schneewittchen? Oder Hänsel und Gretel?“
Ich nickte.
„Und wie alt sind die wohl? Hundert Jahre? Tausend vielleicht? Sie sind sehr jung und sehr alt. Und zwar, weil sie der Phantasie der Menschen entsprungen sind. Nein, ich hatte nie Angst, daß die Zwerge hier auf der Insel altern und graue Haare bekommen könnten. Nicht einmal ihre Kleider haben auch nur einen Riß bekommen. Mit uns gewöhnlichen Sterblichen sieht das schon anders aus: Wir werden alt und grau. Wir werden eines Tages verschlissen sein und aus der Welt verschwinden. Mit unseren Träumen ist das anders. Sie können in anderen Menschen weiterleben, wenn es uns schon längst, längst nicht mehr gibt.“
Er fuhr sich mit der Hand durch die weißen Haare und zeigte auf seine abgenutzte Jacke.
„Die große Frage“, fuhr er fort, „ist nicht, ob die Figuren dem Zahn der Zeit zum Opfer fallen. Die Frage ist, ob sie wirklich im Garten sind und auch von anderen Menschen gesehen werden können, falls irgendwann Besuch auf die Insel kommt.“
„Und das sind sie!“ rief ich. „Erst sind mir Kreuz Zwei und Drei begegnet. Dann die Karos in der Glashütte ...“
„Mmm.“
Der Alte war in seine Gedanken versunken und schien mich nicht zu hören.
„Die andere große Frage“, sagte er schließlich, „ist, ob sie auch noch hiersein werden, wenn ich eines Tages fortgegangen bin.“
„Was meinst du selber?“
„Diese Frage kann ich nicht beantworten. Und ich werde auch selber nie eine Antwort erhalten. Denn wenn ich nicht mehr bin, werde ich auch nicht wissen, ob meine Figuren noch hier auf der Insel sind.“
Wieder schwieg er lange, und ich fragte mich, ob das alles ein Traum sein könnte. Vielleicht saß ich gar nicht hier in Frodes Hütte. Vielleicht war ich ganz woanders – und alles andere war etwas in mir.
„Morgen erzähle ich dir mehr, mein Junge. Ich muß vom Kalender erzählen – und vom großen Jokerspiel.“
„Vom Jokerspiel?“
„Morgen, mein Sohn. Jetzt müssen wir beide schlafen.“
Er zeigte mir eine Pritsche mit Fellen und gewebten Decken und gab mir ein wollenes Nachthemd. Es war gut, endlich aus meinem schmutzigen Matrosenanzug herauszukommen.
An diesem Abend saßen mein Vater und ich lange auf der Dachterrasse unseres Hotels und blickten auf die Stadt und auf den Golf von Korinth. Mein Vater war so satt von Eindrücken, daß er kaum etwas sagte. Vielleicht fragte er sich, ob wir dem Orakel glauben könnten und Mama wirklich bald finden würden.
Spät in der Nacht stieg im Osten der Vollmond über den Horizont. Er erhellte das dunkle Tal und ließ die Sterne am Himmel verblassen. Es war, als säßen wir vor Frodes Haus und schauten auf das Zwergendorf hinab.
KARO
KARO AS
... ein gerechter Mann, der die ganze Wahrheit wissen wollte...
Wie üblich erwachte ich vor meinem Vater. Aber schon bald sah ich seine Muskeln zucken. Ich beschloß herauszufinden, ob die Behauptung von gestern stimmte, daß er jeden Morgen mit einem Knall erwachte. Und wahrscheinlich war es so, denn als er die Augen aufschlug, sah er ehrlich verdutzt aus. So hätte er auch ganz woanders aufwachen können. In Indien zum Beispiel. Oder auf einem kleinen Planeten in einer anderen Galaxis.
»Du bist ein lebendiger Mensch«, sagte ich. »Im Moment befindest du dich in Delphi. Das ist ein Ort auf dem Erdball, der ein lebendiger Planet ist und derzeit um einen Stern in der Milchstraße kreist. Für eine Umlaufbahn um diesen Stern braucht der Planet etwa 365 Tage.«
Er starrte mich an, als müßte er sich an den Übergang vom Traumland in die scharfe Wirklichkeit erst gewöhnen.
»Danke für die Auskunft«, sagte er. »Alles, was du da erzählt hast, sage ich mir normalerweise jeden Morgen, ehe ich aus dem Bett steige, selber.«
Er stand auf und fuhr fort: »Vielleicht solltest du mir jeden Morgen so was ins Ohr flüstern, Hans-Thomas. Dann wäre ich auch schneller im
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