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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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leid, der verhungern oder von wilden Tieren zerrissen werden sollte, und so bat er den Schäfer aus Theben, den Kleinen zu seinem eigenen König nach Korinth bringen zu dürfen. So kam es, daß der Junge dort als Prinz erzogen wurde, denn der König und die Königin von Korinth hatten selber keine Kinder. Sie nannten ihn Ödipus, das bedeutet ›Schwellfuß‹. Die Füße des kleinen Knaben waren nämlich nach den Mißhandlungen, die ihm in Theben widerfahren waren, arg geschwollen. Ödipus wuchs zu einem schönen Mann heran, den alle gern mochten, aber er erfuhr nie, daß er nicht der leibliche Sohn des Königspaares war. – Bis eines Tages ein großes Fest stattfand und ein Gast auftauchte, der ausplauderte, daß Ödipus nicht der wahre Sohn des Königs und der Königin war ...«
    »Was ja auch stimmte«, sagte ich.-
    »Genau. Aber als er die Königin fragte, erhielt er von ihr keine richtige Antwort. Und deshalb beschloß er, das Orakel von Delphi aufzusuchen, um den Fall zu klären. Auf die Frage, ob er der rechtmäßige Erbe des korinthischen Königshauses sei, antwortete die Pythia: ›Meide deinen Vater, denn wenn du ihm begegnest, wirst du ihn töten. Und danach wirst du deine Mutter heiraten und Kinder mit ihr zeugen.‹«
    Ich stieß einen Pfiff aus. Dasselbe hatte das Orakel doch dem König von Theben prophezeit.
    »Ödipus traute sich nun nicht mehr nach Korinth zurück, denn er hielt ja noch immer das dortige Königspaar für seine leiblichen Eltern. Statt dessen begab er sich nach Theben. Und als er die Stelle erreichte, wo wir uns jetzt befinden, begegnete ihm ein vornehmer Mann in einem prächtigen Vierspänner. Der Mann hatte mehrere Diener bei sich, und einer schlug nach Ödipus, damit er dem Wagen Platz machte. Ödipus, der schließlich als Erbprinz von Korinth aufgewachsen war, ließ sich das nicht bieten, und nach einem Handgemenge endete die unglückselige Begegnung damit, daß Ödipus den reichen Mann erschlug.«
    »Der in Wirklichkeit sein Vater war?«
    »Genau. Auch alle Diener wurden erschlagen, und nur der Kutscher konnte entkommen. Er kehrte nach Theben zurück und erzählte dort, daß ein Wegelagerer König Laios ermordet habe. Die Königin und das gesamte thebanische Volk wurden von Trauer überwältigt, aber den Stadtbewohnern machte damals noch etwas anderes Kummer.«
    »Nämlich?«
    »Eine Sphinx, ein gewaltiges Ungeheuer mit Löwenkörper und Frauenkopf. Es bewachte den Weg nach Theben und zerriß alle Vorüberkommenden, die ein Rätsel, das es ihnen stellte, nicht beantworten konnten. Und das Volk von Theben versprach in seiner Not demjenigen, der das Rätsel der Sphinx lösen könnte, die Hand der Königin Iokaste und den thebanischen Königsthron.«
    Wieder stieß ich einen Pfiff aus.
    »Ödipus, der den Zwischenfall mit dem fremden Reichen schnell vergaß, kam bald zum Berg der Sphinx, die ihm folgendes Rätsel aufgab: ›Wer geht morgens auf vier, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen?‹«
    Vater schaute mich an, ob ich dieses schwierige Rätsel lösen könnte, aber ich schüttelte den Kopf.
    »›Der Mensch ‹, sagte Ödipus. ›Morgens krabbelt er auf vier Beinen, mittags geht er aufrecht auf zweien, und abends geht er auf dreien, denn dann braucht er einen Stock.‹ Ödipus hatte die Frage richtig beantwortet, und das überlebte die Sphinx nicht: Sie stürzte sich in den Abgrund und war tot. Ödipus aber wurde in Theben wie ein Held empfangen und erhielt den ausgelobten Lohn: Er heiratete Iokaste – die in Wirklichkeit seine Mutter war. Im Laufe der Zeit bekamen sie zwei Söhne und zwei Töchter.«
    »Du meine Güte!« sagte ich. Ich hatte die ganze Zeit den Blick nicht von Vater abwenden können, aber jetzt mußte ich mir die Stelle ansehen, wo Ödipus seinen Vater umgebracht hatte.
    »Damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende«, erzählte Vater weiter. »In der Stadt brach nämlich eine entsetzliche Seuche aus. Und die alten Griechen glaubten, solche Heimsuchungen seien auf Apollons Zorn zurückzuführen, der wiederum eine tiefere Ursache haben müsse. Also mußten sie abermals das Orakel von Delphi befragen, um herauszufinden, warum der Gott diese entsetzliche Seuche geschickt hatte. Und die Pythia antwortete, daß die Stadt den Mörder König Laios’ ausfindig machen müsse. Wenn nicht, würde die ganze Stadt zugrunde gehen...«
    »O verflixt!«
    »Ja, und nun gab ausgerechnet König Ödipus sich alle Mühe, Laios’ Mörder zu finden. Er selber hatte das

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