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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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beendet hat. Durch das große Erkerfenster blicke ich nach Westen über die Flussauen auf die Landschaft und den Himmel – ein Anblick, der mir immer hilft, klarer zu denken.
    Das Haus ist eine schöne Villa mit Doppelerker im edwardianischen Stil, errichtet aus Suffolk-Ziegeln, die bei Regenwetter grau aussehen, im Sonnenlicht jedoch die Farbe von goldenem Honig annehmen. Nicht protzig, sondern bloß behaglich und gut proportioniert, spiegelt es wider, wie meine Eltern sich selbst und ihre Stellung in der Welt sahen. Sie ließen es während des wirtschaftlichen Aufschwungs kurz nach dem Ersten Weltkrieg auf einem freien Stück Land neben der Seidenmanufaktur errichten. » Wir verdanken dieses Haus Seidenschirmen, Satinverkleidungen und Trauerfloren « , pflegte mein Vater, der den Kaufmann nie verleugnen konnte, fröhlich und unbefangen unseren Besuchern zu erklären.
    Türen mit Buntglasscheiben werfen ein Kaleidoskop von Lichtmustern in großzügige Flure, und der Salon ist geräumig genug, um Platz zu bieten für Mutters Stutzflügel sowie drei Chintzsofas, die um einen hübschen marmornen Kamin gruppiert sind.
    Auf der Seite des Hauses, die an die Weberei grenzt, gab es in meiner Kindheit einen von Mauern umgebenen Küchengarten voller duftender Obststräucher und Gemüsebeete. Auf der anderen Seite versorgte uns eine Streuobstwiese im Herbst mit einem Überfluss an Äpfeln und Birnen, die besonders während der langen Jahre der Lebensmittelzuteilungen sehr geschätzt wurden. Dort befand sich auch ein Tennisplatz, doch sorgte der von Maulwurfhügeln durchsetzte Rasen dafür, dass beim Spielen kein allzu großer Ehrgeiz aufkam. Der Tennisplatz existiert nicht mehr, aber die Rosskastanien sind noch da und erfreuen mich jedes Jahr im Mai mit ihren prachtvollen Blütenkerzen.
    Von meinem Platz im Salon sehe ich den ans Haus angrenzenden Wintergarten. Im letzten Kriegsjahr wurde er durch eine V-2-Rakete, Hitlers sogenannte Wunderwaffe, zerstört. Es war ein einziges Scherbenmeer. Von der Terrasse führen einige gemauerte Stufen zum Rasen hinunter, der sich bis zu den Flussauen erstreckt. Durch diese Wiesen, die im Frühling gelb leuchten von Schlüsselblumen und im Sommer von Butterblumen, schlängelt sich der Fluss, an dessen Ufern knorrige Weiden stehen, die auf mich als Kind immer wie eine Prozession buckliger Hexen wirkten. Es ist eine Landschaft wie aus einem Gemälde von John Constable.
    » Schau dir nur diesen Ausblick an « , rief meine Mutter gerne aus, wenn sie mit einem Korb voller Wäsche auf dem Treppenabsatz haltmachte, ihn auf der breiten Fensterbank abstellte und den Rücken durchstreckte. » Die Leute bezahlen ein Vermögen für Bilder von solchen Landschaften, und wir haben es jeden Tag vor Augen. Vergiss niemals, kleine Lily, wie viel Glück du hast, hier zu leben. «
    Nein, Mutter, das habe ich nie vergessen.
    Ich schließe die Augen und atme tief ein. Das Zimmer riecht nach altem Whisky und Holzfeuer und hallt von lange vergangenen Gesprächen wider. Familiengeheimnisse scheinen sich in allen Winkeln zu verstecken. Hier bin ich aufgewachsen. Ich habe nie woanders gelebt, und nach fast achtzig Jahren wird es wehtun fortzugehen. Das Haus steckt voller Erinnerungen an meine Kindheit, an ihn, an Liebe und Verlust.
    Wenn ich heute durch die Flure und Räume gehe, folgen mir die Schatten der Vergangenheit: banal und außergewöhnlich, fröhlich und traurig, tröstlich und entsetzlich. Szenen meines Lebens. Jetzt, da mein Mann gegangen ist, bin ich fest entschlossen, ein letztes Mal von vorne anzufangen. Keine Schuld mehr, keine Gewissenserforschung. Kein Was-wäre-wenn. Ich muss das Beste aus den wenigen Jahren machen, die mir vielleicht noch vergönnt sind.

Kapitel 2
    China behauptete sein Monopol der Seidenproduktion ungefähr dreitausend Jahre lang. Angeblich wurde das Geheimnis von einer chinesischen Prinzessin verraten. Nachdem sie mit einem indischen Prinzen verheiratet worden war, bekümmerte sie der Gedanke, in Zukunft auf ihre Seidenkleider verzichten zu müssen, derart, dass sie einige Eier der Seidenraupe in ihrem Kopfputz versteckte, bevor sie sich auf den Weg nach Indien zur Hochzeitszeremonie begab. So exportierte sie das Geheimnis der Seidenproduktion in ihre neue Heimat.
    Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
    Die Beerdigung ist nun eine Woche her, und alle machen Bemerkungen darüber, wie gut ich mich halte, doch seit ein paar Tagen ist meine Stimmung eher schlecht. Wenn

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