Das Kettenlädenmassaker
das habe ich. Aber eigentlich in der Hoffnung, etwas über Gentechnologie zu erfahren. Das ist doch das Thema dieser Vorlesung, oder?«
Ein Raunen und Murmeln im Hörsaal zeigte überdeutlich an, daß Harry Molekemp mit dieser Meinung nicht alleine stand.
» Touché « , sagte der monochrome Doktor Stefan. »Doch die Geschichten hatten einen Zweck. Was wissen wir wirklich über unsere eigene genetische Zusammensetzung?«
» Wir wissen nicht allzuviel darüber, Sir«, sagte Molekemp. »Wir hatten eigentlich gehofft, daß Sie uns erleuchten würden.«
»Und genau das bemühe ich mich auch zu tun. Lassen Sie mich kurz zusammenfassen. Erstens, die Hundestory. Hier haben wir einen mythischen Archetypus vor uns. Zerberus, der mehrköpfige Hund, der die Unterwelt bewacht. Ein uralter Glaube, der kurz in eine moderne Umgebung versetzt wurde. Selbstverständlich hat Mason gelogen. Die Geschichte war erfunden. Es war eine langweilige Geschichte mit einer konstruierten Pointe. Aber denken Sie archetypisch, wenn Sie so wollen. Denken Sie an alte Götter und alte Religionen. Denken Sie an DIE GROSSE IDEE, die am Anfang war und aus der sich alle Ideen abgeleitet haben. Ich komme gleich wieder darauf zurück.
Zweitens haben wir die Gespenstergeschichte. Wissenschaftler von heute studieren die Geister aus der Vergangenheit. Sie können sie nicht wirklich sehen, aber sie denken, sie können vielleicht etwas hören oder spüren. Doch dann entdecken wir überrascht, daß die Wissenschaftler selbst nicht aus der heutigen Zeit stammen. Daß auch sie Gespenster sind, nichts als Schatten. Die Geschichte könnte endlos weitergehen. Die Vagabunden könnten sich als Gespenster herausstellen, die von anderen beobachtet werden, die sich ebenfalls wieder als Gespenster herausstellen, und so weiter und so weiter.
Denken sie nach! Der Marsch der Wissenschaften, Halbwahrheit wird abgelöst von Halbwahrheit wird abgelöst von Halbwahrheit und so weiter — wohin soll das führen? Zur ultimativen Weisheit? Zur ultimativen Enthüllung? Können Sie mir überhaupt folgen, Mister Molekemp?«
»Ich denke schon, Sir.«
»Sehr gut. Die dritte Geschichte, die Feenstory. Dieser Alte Pete weiß, daß Feen existieren; er kann sie mit seinen eigenen Augen sehen. Aber er kann es gegenüber seinem Freund nicht eingestehen, der ihm gerade gesagt hat, daß nur Menschen mit kindlichem Bewußtsein Feen sehen können. Eine trickreiche Dichotomie, nicht wahr? Und überdies eine Dichotomie, die sich nicht auflösen läßt. Die Beobachtungen des Alten Pete sind strikt subjektiv. Er mag ein Dummkopf sein, aber vielleicht ist er ein Visionär. Und wir alle wissen, wie die wissenschaftliche Zunft über Visionäre zu spotten pflegt. Die Wissenschaft verlangt nach einer beweisbaren Hypothese, nach wiederholbaren Experimenten, Doppelblindversuchen und nicht zuletzt das Dienstsiegel derer, die in der Verantwortung stehen. Wie weit würden Feen da kommen?«
Molekemps Hand war einmal mehr in der Luft. »Sicher ist das alles ein wenig umständlich, Sir«, sagte er. »So faszinierend es auch sein — oder, soweit es mich betrifft — nicht sein mag.«
Dr. Stefan schüttelte den Kopf. »Ich denke, diese Geschichten besaßen eine gewisse Eleganz, und auch darüber möchte ich sprechen. Die Wissenschaft sieht mit Ehrfurcht auf alles Elegante. Die Poesie der Mathematik, immer in Strophen statt im Blankvers. Die Schönheit von Modellen, die vermitteln, was niemals wirklich verstanden werden kann. Das Schubladendenken der Vernunft. Der Glaube, daß das eine Ding das andere ausgleichen muß.«
»Ich glaube, ich kann Ihnen nicht mehr folgen«, sagte Molekemp.
»Dann sind Sie ein Arschloch«, sagte Dr. Stefan, »und ich werde keine Zeit mehr damit verschwenden, über philosophische Konzepte zu sprechen.« Er wandte sich um und malte mit Kreide die Buchstaben DNS auf die Tafel. »So«, sagte er. »Desoxyribonukleinsäure. Der Hauptbestandteil der Chromosomen, die unsere Gestalt bestimmen. Das DNS-Molekül besteht aus zwei Polypeptidketten in Form einer Doppelhelix, die …«
Irgendwo in der Ferne schrillte eine Klingel, und wie in stillem Tribut an Pavlov sammelten die Studenten ihre Siebensachen ein und verließen den Hörsaal.
Dr. Stefan Malone stand allein vor seiner Tafel. Eine Kapazität allerersten Ranges auf dem Feld der Biochemie. Die Spitze des Baumes. Die Zuckerglasur auf dem Kuchen der DNS-Transfersymbiose. Und das elfenbeinerne Mundstück auf dem verchromten Megaphon
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