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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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kennen, der ich mich nahe fühlte, und ich selbst wiederum hatte jedes Mal auch das wohl begründete Gefühl, ebenfalls geschätzt und geliebt zu werden.

    All diese Verbindungen entstanden in den Jahren nach meinem Studium, als ich bereits auf die dreißig zuging und durch mein ethnologisches Fachwissen einige Übung im Fragen besaß. Einige Übung? Einiges Können? Ach was, heute vermute ich, dass ich damals ein wirklich guter und geduldiger Frager war. Genau diese Fähigkeit ist es auch gewesen, die meinen Freundinnen so gefallen hat. Sie fanden in mir einen meist stillen, ruhigen und sehr konzentrierten Zuhörer, dem es einfach Freude machte, ihren Schilderungen der kleinsten und scheinbar unbedeutendsten Details ihres Lebens aufmerksam zuzuhören.

    Nächtelang bestand meine Aufgabe in all diesen Fällen vor allem darin, genau und immer genauer nachzufragen, ja, ich brachte in der Tat Wochen, Monate und in einem besonders schlimmen Fall sogar Jahre damit zu, meiner jeweiligen Freundin mit Hilfe solcher Fragen dazu zu verhelfen, ihr eigenes, bisheriges Leben besser zu verstehen.

    Irgendwann aber erschöpften sich diese Intensivstunden, und irgendwann kam unweigerlich die Stunde, in der wir uns an einem Tisch gegenübersaßen und es nichts mehr zu fragen gab. Ich sah diese kritische Stunde jedes Mal näher rücken, und ich versuchte, mir immer
noch ausgefallenere Fragen auszudenken, gut zuzuhören, in den richtigen Momenten zu nicken und lauter kluge und deutende Sätze zu ihrem Leben zu formulieren, wie sie kein Analytiker besser und zupackender hätte formulieren können.

    Doch all diese Künste halfen irgendwann nicht mehr weiter. Manchmal gelang es, die fragliche Stunde noch etwas hinauszuschieben, endlos hinausschieben konnte ich sie freilich nicht. Und was geschah dann? Was geschah in dieser grässlichen Stunde, in der mir die Fragen ausgingen oder in der meine jeweilige Freundin und ich spürten, dass wir uns nur noch wiederholten?

    Es geschah jedes Mal dasselbe, und jedes Mal spürte ich das Scheitern im Voraus, als verfolgte mich ein geheimer Fluch. Wir saßen zusammen am Tisch irgendeines Cafés, wir schauten uns stumm an, ich schaute beiseite und bestellte aus lauter Verzweiflung irgendein verdammtes Getränk. Kurz darauf kam dann der große Moment. Wenn ich an diese Augenblicke denke, höre ich noch heute das plötzliche Erstaunen im dringlichen Ton der Fragen: Warum erzähle ich laufend von mir, während Du nie von Dir erzählst? Was ist eigentlich mit Dir los? Wer bist Du überhaupt? Warum bist Du so stumm? Hast Du etwas zu verheimlichen? Stimmt etwas nicht mit Dir? Du bist mir unheimlich, ja, Du wirst mir immer unheimlicher.

    Wenn diese Fragen gestellt wurden, wusste ich, dass alles vorbei war. Sie signalisierten nicht nur das Ausklingen der Liebesemphase, sondern vollzogen bereits
die Trennung. Wir Frauen haben uns offenbart, wollten meine Freundinnen sagen, Du aber hast nicht mitgezogen, sondern machst weiter ein Geheimnis aus Deinem Leben. Bist Du ein Phantom? Willst Du unsichtbar bleiben? Als ich eine solche Abrechnung zum ersten Mal erlebte, protestierte ich noch hilflos, ohne dass dieses Protestieren geholfen hätte. Später wusste ich gleich, dass solche Vorhaltungen das Ende bedeuteten. Ich hätte Stunden und Tage von mir erzählen können – meine Freundinnen hätten mir nicht mehr zugehört und wohl auch nicht mehr geglaubt. In der Zeit unseres anfänglich noch glücklichen Zusammenseins war ich immer mehr zu einem Stichwortgeber und Kommentator ihrer Erzählungen geschrumpft – irgendwann bemerkten sie es und wandten sich empört von mir ab.

    So waren all meine Liebesbeziehungen gescheitert, ohne dass ich je Gelegenheit erhalten hätte, mich zu rechtfertigen oder gar davon zu erzählen, warum ich mich so verhielt, wie ich mich verhielt. Ein solches Erzählen wäre mir auch nicht leichtgefallen, nein, gewiss nicht, es wäre vielmehr eine extreme Herausforderung gewesen. Anderen Menschen ungezwungen, frei und ausführlich von mir zu erzählen – das ist mir in meinem bisherigen Leben nämlich nur in sehr wenigen Fällen gelungen.

    Meiner Mutter und meinem Vater habe ich zum Beispiel in sehr unterschiedlichen Phasen meines Lebens von mir erzählt. Diese frühen Erzählzeiten waren seltene Glücksmomente, sie ereigneten sich ungeplant und so, dass diesen Gesprächen bestimmte Ereignisse vorausgingen und
wir uns dann jeweils nur zu zweit gegenübersaßen. Im Fall meiner Mutter war ich

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