Das Kind, Das Nicht Fragte
Unmengen von Kölsch getrunken. Nach der Schule bin ich in die Brauhäuser gegangen, habe mich an einen leeren Tisch gesetzt, etwas gekritzelt und Kölsch getrunken.
– Du hast Dich mit niemandem unterhalten?
– Natürlich habe ich mich unterhalten, jeden Tag mit jemand anderem, jeden Tag woanders, das war mein Programm.
– Das war Dein Erlösungsprogramm.
– Ja, ich habe immer anderen Menschen immer dasselbe erzählt. Von meinem Zuhause, von meinen vier Brüdern, von meinen stummen Kinderstunden bei Tisch. Es tat mir gut, all das immer wieder zu erzählen.
– Und die anderen haben zugehört?
– Mehr oder weniger, die meisten ließen es über sich ergehen, es interessierte sie nicht besonders.
– Und gefragt hat erst recht niemand. Niemand wollte Genaueres wissen.
– Nein, aber die anderen waren ja auch nicht meine Freunde. Nur gute Freunde interessieren sich auf Dauer für das, was Du ihnen erzählst. Sie interessieren sich für alles, für jede Kleinigkeit.
– Gute Freunde interessieren sich, und gute Freundinnen interessieren sich natürlich auch. Menschen, die einen lieben, interessieren sich.
– Ich hatte aber keine guten Freunde, ich hatte nur meine vier Brüder. Und die Freundinnen, die liefen mir in späteren Jahren eine nach der andern davon.
– Halt, stopp! Was wurde später aus Deinem Kölsch-Trinken?
– Ich gab es auf, ich war es leid, wildfremden Menschen von
mir zu erzählen, ich kam einfach nicht weiter damit, ich steckte in meiner Erzählmaschine fest.
– Du hast also niemandem weiter von Dir erzählt?
– Später habe ich meinen Bräuten von mir erzählt.
– Deine Bräute? Was meinst Du damit? Meinst Du Deine Freundinnen?
– Nein, meine Bräute waren andere Frauen als meine Freundinnen.
– Dann erzähl mir davon, erzähl mir von Deinen Bräuten!
Ich stelle das Diktiergerät aus und atme tief durch. Was ist mit mir los? So kann es doch nicht weitergehen! Ich schließe das Fenster wieder, stecke das Gerät und einige Notizbücher zusammen mit einem Haufen Stiften in eine kleine Umhängetasche und sage:
– Du gehst jetzt nach draußen! Du gehst hinaus, verdammt noch mal! Du sprichst unten an der Rezeption nicht mit der Blonden, und Du setzt Dich an keinen Caféhaustisch, um ein Glas Wein zu bestellen! Du erkundest jetzt den Ort, so wie Du es Dir vorgenommen hast. Eine Weile will ich nichts mehr von früher hören, nichts mehr, keinen einzigen Ton. Geh Deiner Arbeit nach, versprich mir das!
– Ist ja gut, antworte ich, reg Dich nicht auf! Ich wollte eh gerade hinaus, und ich hatte gar nicht vor, mit der Blonden zu plaudern. Es ist Nachmittag, und ich habe großen Hunger, ich werde den Ort erkunden und mich umsehen, wo ich am Abend etwas zu essen bekomme.
Ich öffne vorsichtig die Tür und schleiche hinaus auf den Flur. Ich bemühe mich, möglichst leise aufzutreten, und gehe dann langsam die Wendeltreppe hinab. Als ich die
blonde Wirtin an der Rezeption stehen sehe, winke ich ihr zu, gehe aber rasch weiter. Ich trete hinaus auf die Straße und blicke nur noch einmal kurz zurück. In einem Fenster der Pension taucht ein stark gebräuntes Gesicht auf und schaut auf die Straße. Ist das nicht die ältere Schwester? frage ich mich, tue dann aber so, als hätte ich sie nicht bemerkt.
7
I CH BIEGE auf die Hauptstraße des Dorfes ein und erkenne sofort, dass die mittägliche Siesta vorbei ist. Einige Männer trudeln gerade draußen vor dem kleinen Café ein, das sich unterhalb der Pension an einer Straßenkreuzung befindet. Als sie mich bemerken, blicken sie alle zugleich, ohne ein Wort zu sagen, hinter mir her. Vielleicht wissen sie bereits etwas über mich, vielleicht haben sich längst Gerüchte über meine Person und mein Vorhaben verbreitet.
Ich gehe langsam die breite Straße entlang und lasse den Verkehr, der gerade wieder einsetzt, an mir vorbeigleiten. Die jungen Burschen sitzen zu zweit in ihren angeschredderten Autos und taxieren mich, in den kleinen Läden sind noch keine Kunden zu sehen, die Verkäuferinnen sitzen tief drinnen in diesen chicen Verliesen und telefonieren. Ich lasse mir Zeit, ich werde all diese Wege mehrmals und zu den verschiedensten Tageszeiten gehen,
um ein Gefühl für die Zeitabläufe in diesem Ort zu bekommen. Wohin bewegen sich die Menschen, wo treffen sie in kleineren oder größeren Gruppen aufeinander? Gibt es zentrale Punkte, an denen sie sich immer wieder begegnen, um sich auszutauschen?
Daneben aber will ich auch
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