Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
auswendig aufsagen. Mum, beginnt er. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Sie hat die siebenundzwanzig Zeilen auswendig gelernt, ebenso wie die fünfundsechzig des zweiten Briefes und jede einzelne des dritten, vierten, fünften. Und sechsten. Sechs Briefe sind es insgesamt. Der erste, mitsamt dem Foto, kam letztes Jahr im Herbst; warum, hat ihre Tochter ihr bisher noch nicht verraten. Weil sie glücklich ist, vermutet Megan. Weil das Glücklichsein ihr die Kraft gegeben hat. Die anderen Briefe kamen nacheinander, alle vier bis fünf Wochen. Nicht genug. Nicht annähernd genug. Vor allem, da so wenig darin steht: hauptsächlich Geplauder, über Ellies Freunde. Aber allein schon, dass sie überhaupt Freunde hat, das ist wunderbar. Dass sie Freunde hat und auch dass sie lächelt. Außerdem haben sie sich jetzt getroffen. Drei Mal in den letzten Monaten, ungefähr einmal im Monat. Auf Ellies Initiative hin. Immer nur auf Ellies Initiative hin. Was okay ist, nicht okay, aber mehr kann Megan nicht verlangen. Es ist ein Aufbauen. Ein Wieder-Aufbauen. Es zerreißt sie, aber es setzt sie auch wieder zusammen.
Mum. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
Sie sieht Leo an. Beobachtet ihn beim Lesen. Dann sieht sie wieder auf die Straße und liest in Gedanken die Zeilen mit ihm.
»Hier. Oder etwas weiter drin. Hier ist die schöne Ecke. Die teure Ecke. Acton ist günstiger. Und näher bei Ellie. Aber ich bin mir noch nicht mal sicher, ob ich mir Acton leisten könnte.«
Sie merkt, dass Leo interessierter tut, als er wirklich ist. Er ist ungeduldig. Er hätte auf den Umweg lieber verzichtet.
»Tut mir leid«, sagt sie. »Ich drehe um. Fahre wieder auf den Stadtring.«
»Nein. Wirklich. Ich möchte es gern sehen.«
Sie sieht ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Jetzt willst du aber Zeit schinden.«
»Nein, gar nicht. Was für eine Wohnung suchst du denn?«
»Doch, willst du wohl. Nur was Kleines. Vier Zimmer, wenn möglich.«
»Ich bin bloß nervös, das ist alles. Vier Zimmer klingt gut.«
Sie lächelt. Sie kann nicht bestreiten, dass sie selbst ein wenig nervös ist. »Drei«, sagt sie. »Wahrscheinlich werden es nur zwei. Eigentlich hätte ich auch gern einen Garten für Rupert, aber das wäre schon eine ziemlich leichtsinnige Ausgabe.«
»Rupert?« Leo dreht sich zu ihr um. »Rupert lebt noch? Aber die muss doch jetzt …«
»… halb tot sein. Das meine ich ja. Ich habe ehrlich gesagt meine Zweifel, ob sie überhaupt bis zum Umzug durchhält. Deswegen habe ich Ellie auch kein Wort von ihr gesagt.«
»Solltest du aber«, sagt Leo. »Da freut sie sich bestimmt.« Noch einmal schüttelt er den Kopf über die endlose Folge von Wundern.
»So oder so«, sagt Megan und denkt wieder an die Wohnung. »Ich richte ein Gästezimmer ein. Falls du mal … Also, falls mal jemand …«
Sie läuft rot an, dreht den Kopf weg. Sie sieht nicht einmal nach, ob auch Leo rot geworden ist.
Nach einer Weile räuspert sich ihr Mann. »Ich bin übrigens ziemlich oft hier oben in der Gegend. Du weißt ja. Wegen der Arbeit.«
Arbeit. So nennt er es, seit sie ihn danach gefragt hat. Megans Ansicht nach stellt er sein Licht damit unter den Scheffel.
»Wie läuft es denn so?«, fragt sie.
»Ach, na ja.« Er glaubt nicht, dass es sie wirklich interessiert.
»Erzähl doch mal. Bitte.« Sie kommen an einen Kreisverkehr, und Megan fährt einmal herum, bis der Wagen in die Richtung zeigt, aus der sie gekommen sind.
»Schleppend«, sagt Leo. »Die Öffentlichkeitsarbeit, meine ich. Aber wir haben so lange genervt, bis uns ein paar Hinterbänkler ihre Unterstützung zugesagt haben. Hauptsächlich Liberal Democrats.« Er zuckt mit den Achseln. »Aber immerhin.«
Aber immerhin, das kann er laut sagen. Sie denkt an Leos Vater und fragt sich, ob Leo weiß, wie stolz Matthew wäre.
»Und Karen? Arbeitet sie auch mit dir zusammen?«
Leo nickt. »Karen ist beteiligt. Ziemlich maßgeblich sogar, vor allem wegen ihrer Erfahrungen mit … also, ich meine angesichts ihrer Erfahrung …«
»Mit Daniel.« Megan spricht den Namen aus, und zum ersten Mal, seit sie sich erinnern kann, durchfährt sie kein unangenehmer Schauder.
Leo sieht sie an. »Genau. Und auch ein Kronanwalt, mit dem ich früher zusammengearbeitet habe«, fügt er hinzu. »Er hatte auch mit Daniels Fall zu tun. Und noch andere. Anwälte, Therapeuten und ein Richter. Es ist gut, dass gerade Leute, die von Berufs wegen mit dem Gesetz zu tun haben, argumentieren, dass
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