Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
gedanklich schon ein paar Schritte zu weit.«
Dale erwiderte nichts. Er sah Leo eine Weile an, dann lächelte er und richtete sich auf. »Kann sein. Tut mir leid, Leo. Es war nicht meine Absicht, das alles noch schwerer zu machen.«
»Nein.« Leo sah hoch. »Nein«, sagte er noch einmal, diesmal mit einer Munterkeit, die er nicht empfand. »Nein, wirklich, das ist in Ordnung. Sie haben mir sehr geholfen. Wirklich.«
Dale lächelte – er wusste genauso gut wie Leo, dass das eine Lüge war. Er schlug seinen Ordner zu. Leo sah einen Moment auf den Tisch, dann begann er zusammenzupacken.
»Wie viel Erfahrung haben Sie eigentlich in der Jugendarbeit, Leo?«, fragte Dale nach einer Weile, ohne Leo anzusehen. Er steckte seinen Stift in die Jacketttasche.
Leo hatte einmal ein Seminar besucht, konnte sich aber gerade noch verkneifen, das zu sagen. »Ein bisschen«, erwiderte er stattdessen. »Nicht besonders viel.« Außerdem hatte er selbst eine Tochter. Das war der zweite Grund, weshalb Howard ihn zum Spezialisten der Kanzlei auserkoren hatte, erinnerte sich Leo.
»Jugendarbeit ist hart«, sagte Dale. »Sie kann einem an die Nieren gehen. Die eigene Urteilsfähigkeit beeinflussen.« Er war aufgestanden und sah Leo über den Tisch hinweg an. »Es ist manchmal nicht leicht, objektiv zu bleiben und das, was man tun muss, von dem zu unterscheiden, was man gern tun würde.«
Ohne aufzusehen, schloss Leo seine Aktentasche.
Sie waren schon fast beim Aufzug. Leo räusperte sich, und Dale sah zu ihm herüber. »Waren Sie …«, setzte Leo an. »Wurden Sie …« Dale lächelte und zog gleichzeitig ein besorgtes Gesicht. »Wurden Sie schon mal bedroht?«, fragte Leo schnell. »Wegen Ihrer Arbeit?«
Am Aufzug blieben sie stehen. Dale drückte den Knopf und schnaubte. Er verschränkte die Arme und sah Leo argwöhnisch an. »Sie meinen, von einem Mandanten? Reden Sie von Da…«
»Nein, nein, nein. Gar nicht. Ich meine, so allgemein. Von jemand anderem. Wegen eines Falls, mit dem Sie zu tun hatten.«
Wieder überlegte Dale. »Na ja, ich … Ja. Doch, schon.«
Absurderweise spürte Leo, wie ihn eine gewisse Erleichterung überkam.
»Genau genommen sogar mehr als nur bedroht«, sagte Dale, und die Erinnerung, die in ihm hochkam, schien ihn aufzuheitern. »Ich wurde angegriffen. Da war ich noch in der Ausbildung. Von der Freundin dieses Typen, den ich verteidigt habe.« Dale grinste. »Der passte nicht, was ich ihm geraten habe. Sie wollte unbedingt aussagen, wissen Sie, und dem Richter sagen, was für ein rechtschaffener Mann mein Mandant ist, dabei ging es ja gerade darum, dass dieser Kerl, also mein Mandant, verheiratet war – mit zwei Frauen gleichzeitig – und wegen Bigamie angeklagt war. Wir waren in meinem Büro, direkt hier unten übrigens, und auf einmal …« Dale verstummte, als er Leos Gesichtsausdruck sah. »Na jedenfalls, die Sache ging nicht gut aus«, sagte er und tat die Geschichte mit einer Handbewegung ab. »Ich bin auch eine Weile mit Kratzspuren rumgelaufen … genau wie … äh … genau wie Sie.« Er lächelte kurz, dann hustete er und sah zu Boden. Er drückte noch einmal den Aufzugsknopf.
Leo fasste sich an die Wange. »Ich dachte mehr an … na ja, an die Öffentlichkeit.« Er ließ die Hand wieder sinken. »Leute, die nicht direkt beteiligt sind.«
»Protestler, meinen Sie? Wie diese Meute vor dem Gericht neulich, die ich in den Nachrichten gesehen habe?«
»Ja, so in der Art.«
»Ich musste mich auch das eine oder andere Mal durch eine aufgebrachte Menge schlagen. Bin dem einen oder anderen Ei ausgewichen, und einmal hab ich sogar eins abgekriegt. So ein Talar muss halt öfter mal in die Reinigung. Das liegt in der Natur der Sache, würde ich sagen. Eigentlich sollte man die Rechnungen steuerlich absetzen können.«
Leo lächelte höflich. Er nickte, als hätte er so etwas in der Art gemeint. »Was ist mit Briefen? Botschaften? Solchen Sachen.«
»Briefen?«
»Na ja, anonyme Briefe.«
»Sie meinen Drohbriefe?« Dale grinste unpassenderweise. »Die kriegen wir hier säckeweise, mein Freund. Menschenrechtler, Umweltschützer, Tierschützer, suchen Sie sich was aus. Wenn sie nicht an den Guardian schreiben, dann an uns.« Dale sah sich kurz um und beugte sich dann betont dicht an Leo heran. »Ich verrate Ihnen jetzt mal was.« Er flüsterte: »Anwälte sind nicht allzu beliebt in diesem Land.« Er hob die Hände und ging einen Schritt zurück. »Verrückt, ich weiß. Ich für
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