Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
möglichst eine Menge Geld dalassen.«
Leo gab sich Mühe, Dales schelmisches Grinsen zu erwidern.
In der fünften Etage stiegen sie aus, und Dale führte Leo einen langen Gang entlang, dessen Ausstattung der der Lobby in nichts nachstand. Zwischen walnussvertäfelten und von eleganten Lampen erleuchteten Wänden hindurch gingen sie in einen Konferenzraum, wo sie sich einander gegenüber an einen Tisch setzten, der wahrscheinlich mehr gekostet hatte als Leos Auto. Darauf standen Kaffee und ein Tablett mit Gebäck, und Dale bot Leo von beidem an. Leo lehnte ab, und Dale schob das Tablett zur Seite und zückte seinen Stift.
Also.
Es klang unbedacht. Mehr als das, es klang naiv. Als er mit seinen Kollegen in Exeter darüber diskutiert hatte, hatte er seine offenkundigen Denkfehler noch unter dem Deckmäntelchen der Rechtschaffenheit verbergen können. Dale hingegen war ihm nicht feindlich gesinnt. Er stand Leos Vorhaben eindeutig wohlwollend gegenüber. Und das bedeutete, dass Leo sich jetzt weder ins Poltern flüchten noch hinter einem Moralismus verstecken konnte, der an der Sache vorbeizielte. Und so wurde er nervös. Er räusperte sich, schon zum vierten oder fünften Mal, wie es schien, dabei war es Dale, von dem er etwas hören wollte.
»Was ist mit seinem IQ?«, fragte der Kronanwalt endlich.
»Neunzig. Er wurde letzte Woche getestet.«
Dale antwortete, indem er den Mund verzog. Niedrig, das brauchte er nicht zu sagen – aber nicht niedrig genug.
»Und die psychiatrische Gutachterin …«
»Karen.«
»Richtig, Karen. Die hat nichts festgestellt, was wir verwenden könnten?«
Das »wir« war beruhigend, bis Leo überlegte, in welchem Zusammenhang es stand.
»Nein, nicht direkt. Er ist bei klarem Verstand und zu einem rationalen Urteil fähig. Er weiß, was richtig und was falsch ist. Er hat zwar eine posttraumatische Belastungsstörung, aber es gibt keine Anzeichen für irgendeine Grunderkrankung. Trotzdem hat sie gewisse Bedenken.«
Dale zog eine Augenbraue hoch, doch Leo musste ihn enttäuschen.
»Bloß Bedenken«, sagte er. »Nichts Konkretes. Auf irgendeine Weise ist er eindeutig geschädigt, aber … Na ja. So weit waren wir auch vorher schon.«
Dale drückte auf seinen Kuli: klick-klick, dann noch einmal und noch einmal, klick-klick, klick-klick, wie ein Metronom. »Sie wissen ja, Sie könnten auch jemand anderen hinzuziehen.« Er bewegte sich dabei nicht, so als wäre er auf der Hut vor Leos Reaktion. »Angenommen, Karen ließe uns in ihrem Gutachten entsprechenden Spielraum, dann würden wir sicher noch jemand … Einfühlsameren finden.«
Leo sah auf seine Hände. Daran hatte er auch schon gedacht, natürlich. Aber: »Er bekommt Prozesskostenhilfe. Wir bekämen gar nicht die Mittel dafür. Und es war schon schwierig genug, ihn von dem Treffen mit Karen zu überzeugen, geschweige denn jetzt noch von jemand Neuem.« Leo rutschte auf seinem Stuhl herum. »Und außerdem geht es doch darum, dass wir das Richtige für den Jungen tun. Und nicht darum, eine Lüge zu stricken.«
»Von Lügen ist doch gar nicht die Rede, Leo. Es gibt auf diesem Gebiet eigentlich nie eine absolute Wahrheit.«
»Natürlich nicht. Aber es gibt so etwas wie einen Konsens. Und ich vertraue auf Karens Urteil. Sie täuscht sich nicht. Hat sie noch nie. Für jeden Experten, den wir finden, der ihrer Einschätzung widerspricht, findet der Crown Court zehn, die ihr zustimmen.«
Dale zog kurz eine Augenbraue hoch. Für einen Moment schwiegen sie beide.
»Noch einmal zurück zu dem Opfer.« Dale verlagerte das Gewicht auf die andere Armlehne und überkreuzte die Beine in die andere Richtung. »Welche Verbindung bestand zwischen dem Mädchen und Daniel?«
»Sie waren auf derselben Schule. Haben in derselben Stadt gewohnt.«
»Mehr nicht?«
»Nein, wie es aussieht, nicht. Als ich das erste Mal mit Daniel gesprochen habe, wusste er kaum noch, wie sie hieß.«
»Und sie hat ihn nicht vielleicht gehänselt? Verspottet? Auf irgendeine Weise provoziert?«
»Nicht, dass ich wüsste. Nicht einmal Daniel selbst hat so etwas gesagt. Und um ehrlich zu sein, war sie wohl auch nicht der Typ für so etwas.« Für einen Sekundenbruchteil sah Leo das Bild von Felicitys Händen vor sich, blutleer und mit der Lichterkette gefesselt. »Sie war am falschen Ort.« Er zwang sich, sich auf Dale zu konzentrieren. »Zur falschen Zeit am falschen Ort. Oder Daniel: körperlich, geistig.«
»Provokation oder Notwehr scheiden dann
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