Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
diesen Kindern, die aus einer Schublade voller Löffel das einzige Messer herausziehen.«
Daniel ließ wieder seinen Kuli kreisen. Er nickte mit dem Kopf wie zu einem Takt. »Nützlicher Hintergrund«, murmelte er. Leo war sich nicht sicher, ob Dale mit sich selbst redete oder ob das als halbherzige Ermutigung gemeint war. So oder so, der Hintergrund allein würde nicht genügen. Leo spürte, wie er ein wenig in sich zusammensank. Er blickte auf seine Hände, und als er den Kopf hob, merkte er, dass Dale ihn beobachtete.
Dale legte den Stift weg und hustete kurz, bevor er zum Sprechen ansetzte. »Haben Sie schon mal über … strafmildernde Umstände nachgedacht?«
Leo spürte, wie sich seine Züge verhärteten.
»Ich wüsste nicht, warum Sie bei der Darlegung von Daniels persönlichem Hintergrund nicht dieselben Argumente vorbringen sollten, die Sie mir gerade genannt haben«, sagte Dale. »Außerdem bekäme Daniel vielleicht ein paar Jahre weniger, wenn er auf schuldig plädiert.«
Leo schüttelte den Kopf. »Aber dann ist er schuldig. Es geht nicht nur um das Strafmaß, Dale. Wenn er schuldig gesprochen wird, ist er das für den Rest seines Lebens: bei amtlichen Stellen, in sämtlichen Datenbanken und Listen. Und außerdem ist nicht gesagt, dass er dann besser davonkommt. Nicht, wenn das öffentliche Interesse so groß ist wie in diesem Fall.«
»Vielleicht nicht. Aber es scheint mir das Beste zu sein, was er tun kann. Und seine Eltern … Irgendwie habe ich den Eindruck, Sie halten nicht viel von ihnen, aber … Na ja, in diesem Fall könnten sie richtigliegen.«
»Nein, das ist nicht richtig. Wie kann das richtig sein? Es muss doch irgendjemand die Frage nach dem Warum stellen. Oder etwa nicht? Wer auch immer das Urteil spricht, muss begreifen, was Daniel dazu gebracht hat, das zu tun, was er getan hat. So viel ist man dem Jungen einfach schuldig. Sind wir ihm schuldig. Mit meiner Taktik hätte er wenigstens eine Chance.«
»Seine Tat hat jemanden das Leben gekostet, Leo. Ein unschuldiges Kind.«
»Nicht nur das Kind. Ihn selbst im Grunde auch.«
»Das zählt aber nicht. Und außerdem geht es nicht um die Frage nach dem Warum. Wir müssen mehr verurteilen und weniger verstehen. Wissen Sie noch, John Major? Wir sind hier in England, Leo, nicht in Skandinavien.«
»Also überlassen wir das den Zeitungen, ja? Wollen Sie das damit sagen? Sollen sich doch die Sun und der Mirror und die Mail um die Frage nach dem Warum kümmern?«
»Ich sage nur, dass es nicht unsere Aufgabe ist. Mehr nicht.« Dale schwieg einen Moment, dann fügte er hinzu: »Vor allem nicht, wenn wir die Antwort nicht einmal kennen.«
Leo öffnete den Mund, dann schloss er ihn fest. Er merkte, wie er sich vorbeugte, wie seine Hände zur Tischmitte wanderten. Er legte sie wieder in den Schoß und lehnte sich zurück.
Dale seufzte. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin auf Ihrer Seite. Aber Sie sollten auch überlegen, wie sich ein Prozess auf den Jungen auswirken würde. Ob es – aus seiner Perspektive – wirklich das Richtige ist, alles bis ins Kleinste zu beleuchten.«
»Wie meinen Sie das?«
»Überlegen Sie doch mal. Überlegen Sie mal, was das mit sich bringen würde. Sie waren ja bestimmt schon mal bei einem Mordprozess dabei.«
Bei zweien sogar. Bei einem als Beobachter, beim anderen auf der Seite der Verteidigung. Keiner der beiden Prozesse war so dramatisch gewesen, wie er erwartet hatte, aber sie waren lang gewesen, lang und zermürbend, selbst für einen unbeteiligten Zuschauer. »Aber es wäre ja schon anders, oder? In Anbetracht von Daniels Alter.«
Dale zuckte mit den Achseln. »Vielleicht nehmen die Kronanwälte ihre Perücken ab. Vielleicht sitzt der Richter ein Stück tiefer. Aber, nein – eigentlich wäre es genauso wie sonst. Ein bisschen langsamer vielleicht. Ein bisschen schleppender. Es wäre eine Tortur, Leo. So viel steht fest.«
»Nun gut«, erwiderte Leo und rutschte auf seinem Stuhl herum. »Wie Sie gesagt haben. So viel steht fest.«
»Glauben Sie denn, Daniel wäre dem gewachsen?«, fragte Dale nachsichtig und ignorierte Leos Ton. »Wie käme er damit zurecht, wenn er aussagen müsste? Würde er ruhig bleiben? Reumütig wirken? Könnte er schweigen, aufmerksam sein, vernünftig auf dem Stuhl sitzen: all das, womit er offenbar schon in der Schule so seine Probleme hatte?« Dales Blick schien auf den Kratzern an Leos Wange zu verweilen.
Leo senkte das Kinn. »Ich glaube, wir sind
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