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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Verzeih mir. Aber es ist nicht so leicht, sich an diese Dinge zu erinnern.«
    Dann ließ sie die beiden hinter sich und ging den Weg zum Turm hinauf. Über dem dunklen Meer schien nun der Abendstern, der nach Lauriel, der Weißen, benannt war.
    Flidais erkannte, als er sie weggehen sah, dass er es ganz falsch gemacht hatte. Eigentlich wollte er das Gespräch ja auf jenen Namen lenken, mit dem der Krieger angerufen wurde, das war das einzige Rätsel in allen Welten, für das er keine Antwort wusste. Er war sehr klug, und normalerweise hätte er das Gespräch in jede Richtung leiten können, wohin er wollte, und der Weber wusste, wie tief sein Verlangen nach dieser Antwort war. Nun hatte er aber vergessen, was in der Gegenwart von Guinevere geschehen war. Auch wenn sich die Andain wenig um die Probleme sterblicher Menschen kümmerten, wie konnte man angesichts eines so alten Leidens listig sein?
    Beide waren sie mit ihren Gedanken beschäftigt, der Lios Alfar wie auch der Andain, und zusammen nahmen sie das Steuerruder aus dem Boot und folgten ihr dann in den Anor und die Wendeltreppe hinauf.
     
    Es war merkwürdig, dachte Jaelle, dass sie sich am Ort ihrer eigenen Macht so unwohl fühlte.
    Sie befand sich in ihren Räumen im Tempel von Paras Derval, umringt von den Priesterinnen des Heiligtums und den braungekleideten Akolytinnen. Sie konnte sich in einem Augenblick mit den Mormae in Gwen Ystrat geistig verbinden, wenn es notwendig war oder wenn sie es wünschte. Sie hatte sogar einen befreundeten Gast im Tempel: Es war Sharra von Cathal, die von dem amüsanten Tegid von Rhoden bis zum Tor, aber nicht nach jenseits des Tors begleitet wurde. Dieser Tegid schien seine Aufgaben als Brautwerber für Diarmuid mit einem Ernst zu tragen, den man nicht gewohnt war.
    Aber es war auch eine Zeit, die zum Ernst und sogar zur Beunruhigung Anlass geben konnte. Nichts von all den gewohnten Ereignissen, nicht einmal die Glocken, welche die Grauen zur Abendbeschwörung riefen, reichten hin, um die Gedanken der Hohepriesterin zu beruhigen.
    Nichts war mehr so klar, wie es einmal gewesen war. Sie war hier, und sie gehörte hierher, wahrscheinlich hätte sie jede Aufforderung, geschweige denn jeden Befehl, irgendwo anders zu sein, nur mit Verachtung gestraft. Sie hatte sowohl die Pflicht wie auch die Macht, die gesponnenen Gewebe nach Danas Willen zu gestalten und dies an diesem Ort zu tun.
    Und trotzdem fühlte sich alles anders an.
    Zuerst einmal stand ihr die Hälfte der Regierungsmacht über Brennin zu, seit der Großkönig nach Norden gegangen war, seit gestern.
    Gestern Abend oder genauer gesagt vor zwei Nächten, doch hatten sie erst nach ihrer Rückkehr von Taerlindel erfahren … war das Rufglas aus Daniloth aufgelodert. Zusammen mit Aileron hatte sie die Lichtspirale im Zepter, das die Lios Alfar Ailell gegeben hatten, gesehen.
    Der König hatte nur einen Augenblick lang gezögert, er nahm nur ein schnelles Mahl zu sich und teilte knappe Befehle aus. In den Garnisonen mobilisierten die Hauptleute der Garde jeden Mann. Das nahm wenig Zeit in Anspruch, denn Aileron hatte sich auf jenen Augenblick seit dem Tag vorbereitet, als sie ihn gekrönt hatte.
    Er hatte alles sorgfältig getan, er hatte sie zusammen mit dem Kanzler Gorlaes dazu ernannt, das Reich zu führen, während er im Krieg war. Er war neben ihr vor den Palasttoren stehen geblieben, hatte sie schnell, aber nicht ohne Ehrerbietung gebeten, ihr Volk zu schützen, so gut es ihre Kräfte erlaubten.
    Und schon saß er auf seinem schwarzen Streithengst und galoppierte mit einem Heer hinweg, zuerst zur Nordfeste, um die Garnison, die dort stand, zu sammeln und dann nachts über die große Ebene nach Norden nach Daniloth zu stoßen … und nur Dana wusste, worum es ging.
    Er ließ sie in diesem vertrautesten aller Orte zurück, wo plötzlich nichts mehr vertraut erschien.
    Sie hatte ihn einst gehasst, erinnerte sie sich. Sie hatte sie alle gehasst: Aileron, seinen Vater, und seinen Bruder Diarmuid, den sie wegen seiner spöttischen, ätzenden Sprechweise den »Prinzling« nannte.
    Aus dem Kuppelgewölbe drangen leise die Gesänge zu ihren Ohren. Es war nicht die übliche Abendanrufung. Bis der Mittsommernachtsmond verschwunden sein würde, acht weitere Nächte also, würden die Abendgesänge mit der Klage um Liadon beginnen und enden.
    Darin lag so viel Kraft, ein so herrlicher Triumph für die Göttin und für sie selbst als deren erste Hohepriesterin. Unzählige Jahre hatte

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