Das Kind des Schattens
und all jene, die in den Gängen versammelt waren. Sie warteten. Jaelle rang mühsam nach Atem. Ihre Hände streichelten blind, fast automatisch Leilas Haar. Das Kleid des Mädchens war schweißnass.
»Was ist das?« flüsterte Sharra von Cathal. In diesem Schweigen klang es laut. »Wer hat das gesagt?«
Jaelle fühlte, wie Leila zitternd Atem holte. Fünfzehn Jahre war sie erst, dachte Jaelle. Und Leila hob wieder zitternd ihren Kopf, ihr Gesicht war fleckig, ihr Haar hoffnungslos verwirrt. Sie sagte: »Es war Ceinwen, Hohepriesterin, es war Ceinwen.« In ihrer Stimme war Staunen, das Staunen eines Kindes.
»Sie selbst? Unmittelbar?« fragte Sharra von neuem. Jaelle blickte auf die Prinzessin, die trotz ihrer Jugend im Gebrauch der Macht geübt worden war und deshalb offensichtlich die Beschränkungen kannte, die der Weber den Göttern auferlegt hatte.
Leila wandte sich Sharra zu. Ihre Augen blickten wieder normal und sahen sehr jung aus. Sie nickte. »Es war ihre eigene Stimme.«
Jaelle schüttelte den Kopf. Dafür würde das eifersüchtige Pantheon der Göttinnen und Götter einen Preis fordern, das wusste sie. Und das lag natürlich weit jenseits ihrer Grenzen. Etwas anderes allerdings vermochte sie. Sie warnte: »Leila, du bist in Gefahr. Die Jagd ist zu wild. Die heftigste Kraft, die es überhaupt gibt. Du musst versuchen, diese Verbindung mit Finn aufzulösen, mein Kind, in ihr wohnt der Tod.«
Sie selbst hatte Macht, und sie wusste auch, wann ihre Stimme nicht mehr nur ihre eigene Stimme war. Sie war die Hohepriesterin, und sie war es im Tempel der Dana.
Leila sah zu ihr auf, noch immer kniete sie ruhig auf dem Boden. Unwillkürlich griff Jaelle nach einer von Leilas Haarlocken, um sie von ihrem weißen Gesicht nach hinten zu ziehen.
»Ich kann nicht«, hauchte Leila ruhig. Nur Sharra, die ihnen am nächsten stand, hörte es. »Ich kann es nicht auflösen. Aber es spielt auch keine Rolle mehr. Sie werden ihn niemals wieder rufen, sie wagen es nicht … Sie können jetzt überhaupt nicht mehr beschworen werden, auch wenn das versucht wird. Ceinwen wird nicht zweimal dazwischentreten. Hohepriesterin, er ist, er ist weggegangen, er ist ferne dort oben bei den Sternen, auf dem Längsten Weg.«
Jaelle blickte lange Zeit auf sie. Sharra trat ebenfalls hinzu und legte ihre Hand auf Leilas Schulter. Wieder, fiel ihr wirres Haar herab, und wieder strich die Priesterin es zurück. Irgend jemand war zum Gewölbe zurückgekehrt. Die Glocken läuteten.
Jaelle stand auf. »Gehen wir«, gebot sie. »Die Anrufungen sind noch nicht beendet. Wir wollen sie alle bis zum Ende singen. Kommt.«
Sie führte sie durch die gewundenen Gänge bis zu dem Ort, wo die Axt stand. Aber während der Abendgesänge hörte sie unablässig eine andere Stimme in ihrem Geist.
»Der Tod wohnt darin.« Es war ihre eigene Stimme und mehr als das, ihre und der Göttin Stimme. Und das bedeutete immer, dass sie die Wahrheit sprach.
Kapitel 2
Am nächsten Morgen zur grauesten Stunde, kurz vor der Dämmerung, traf Prydwen weit draußen im Meer auf den Seelenverkäufer. Zur gleichen Zeit erwachte Dave Martyniuk allein auf dem Totenhügel bei Celidon auf der Ebene.
Er war nie ein besonders scharfsinniger Mensch gewesen, aber das musste man gar nicht sein, um zu verstehen, was es bedeutete, dass Ceinwen unter ihm und über ihm auf dem grünen, vom Tau der letzten Nacht silbrig gefärbten Gras gelegen hatte. Zuerst war er wie betäubt von Ehrfurcht und Demut, aber nur zuerst und nicht sehr lange. In dem blinden und instinktiven Vollzug seines Liebesaktes hatte Dave nach dem Blutbad am Fluss eine Bestätigung des Lebens und der Lebenden gefunden.
Er erinnerte sich lebhaft, was er ein Jahr zuvor bei einem mondbeschienenen Teich in Faelinnhain gesehen hatte. Wie der Hirsch, der von der Grünen Ceinwen mit einem Pfeil getroffen worden war, sich zweigeteilt hatte und wieder aufgestanden war, wie er seinen Kopf vor der Jägerin gebeugt hatte und vor seinem eigenen Tod davongelaufen war.
Und nun kam eine andere Erinnerung zum Vorschein. Er spürte, dass die Göttin in der vergangenen Nacht sein eigenes zwanghaftes Bedürfnis geteilt, ja sogar hervorgerufen hatte, um die absolute Gegenwart der Lebenden in einer Welt zu bekräftigen, die noch sehr von den Mächten des Dunkels bedrängt wurde. Und er vermutete, dass dies der Grund für das Geschenk war, das sie ihm gegeben hatte. Eigentlich war es das dritte Geschenk: zuerst sein Leben, damals
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