Das Kind
nochmals kurz den Schirm, um eine widerspenstige schlohweiße Haarsträhne darunter zu verstecken.
»Ich weiß nicht«, antwortete Stern etwas überfordert. Er wollte Simon besuchen und mit ihm über die Ereignisse von gestern reden. Auf einen Smalltalk über schwedische Popmusik der siebziger Jahre war er nicht eingestellt. »Ich auch nicht«, grinste Losensky. »Sie sind alle gut. Einer wie der andere.«
Die nagelneuen Reifen surrten sanft über den glänzenden Fußboden, als Picasso den Rollstuhl wieder anschob. »Zu wem wollen Sie eigentlich?« Der Pfl eger drehte sich noch einmal zu ihm um.
»Ich suche Zimmer 217.«
»Simon?«
»Ja, kennen Sie ihn?« Stern schloss wieder zu ihnen auf. »Simon Sachs, unser Waisenkind«, sagte der Pfl eger und blieb nach wenigen Schritten vor einer unwettergrauen Tür mit der Aufschrift »Physiotherapie« stehen. »Natürlich kenne ich ihn.«
»Wer nicht?«, murmelte der alte Mann, während er in einen hellen Raum mit mehreren Isomatten auf dem Boden, einer Sprossenwand und zahlreichen Sportgeräten geschoben wurde. Er klang so, als wäre er beleidigt, dass sich die Unterhaltung jetzt nicht mehr allein um ihn drehte. »Er ist unser Sonnenschein«, schwärmte Picasso und hielt den Rollstuhl neben einer Massagebank an. »Schlimme Sache, das mit ihm. Erst muss der Staat das Sorgerecht übernehmen, weil seine asoziale Mutter ihn fast ver hungern lässt, und jetzt fi nden sie auch noch einen Tumor in seinem Kopf. Gutartig, sagen die Ärzte, weil er keine Metastasen bildet. Pah!«
Für einen Moment glaubte Stern, der Pfl eger würde vor ihm auf den Boden spucken.
»Versteh nicht, was daran gutartig sein soll, wenn das Ding immer weiter wächst und irgendwann sein Großhirn abklemmt.«
Die Zwischentür zu einem benachbarten Büro ging auf, und eine Asiatin in einem Judo-Anzug und winzigen Gesundheitsschuhen betrat das Zimmer. Offenbar gefi el sie Losensky, denn er begann wieder, den Abba-Song zu pfeifen. Doch diesmal hörte sich sein »Money, Money, Money« eher wie bei einem Bauarbeiter an, der gerade eine vollbusige Blondine hat vorbeilaufen sehen.
Zurück auf dem mittlerweile etwas belebteren Flur, streckte Picasso den Arm aus und zeigte auf die zweite Tür links neben dem Schwesternzimmer.
»Da hinten ist es übrigens.«
»Was?«
»Na, die 217. Simons Einzelzimmer. Aber so können Sie da nicht rein.«
»Warum nicht?«
Stern rechnete schon mit dem Schlimmsten. Ging es Simon so schlecht, dass man ihn nur mit steriler Kleidung besuchen durfte?
»Sie haben kein Geschenk dabei.«
»Wie bitte?«
»Als Besucher bringt man entweder Blumen oder Schokolade mit. Bei einem zehnjährigen Jungen tut’s zur Not auch eine von diesen Musikzeitschriften oder sonst was. Aber Sie können doch nicht mit leeren Händen vor einem Kind ste hen, das vielleicht nächste Woche schon nicht mehr am Leben …«
Picasso kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu vollenden. Stern sah plötzlich etwas aus dem Augenwinkel und drehte sich nach links, um die genaue Quelle des Alarmsignals zu orten. Als er die rot blinkende Lampe über der Tür entdeckte, eilte er dem Pfl eger hinterher, der bereits auf dem Weg zu dem Notfall war. Kurz vor Zimmer 217 hatte er ihn eingeholt.
3.
U m kurz vor vier war er das erste Mal aufgewacht und hat te nach der Schwester geklingelt. Carina war nicht gekommen, was ihn viel mehr störte als die schwelende Übelkeit. Sie hing morgens immer irgendwo in der Speiseröhre fest, genau zwischen Kehlkopf und Magen, und war meistens mit vierzig Tropfen MCP-Lösung in den Griff zu kriegen. Nur wenn er zu spät aufwachte und die Kopfschmerzen bereits ihr Hufeisen um seine Schläfen geworfen hatten, dauerte es manchmal mehrere Tage, bis er auf der Skala wieder bei einer »Vier« angelangt war.
So maß Carina immer seinen Allgemeinzustand. Jeden Morgen fragte sie als Erstes nach der Zahl, wobei »Eins« für beschwerdefrei und »Zehn« für unerträglich stand. Simon konnte sich nicht erinnern, wann es das letzte Mal besser als »Drei« gewesen wäre. Allerdings könnte es heute passieren, wenn der traurige Mann an seinem Bett noch et was länger blieb. Er freute sich, sein Gesicht zu sehen. »Tut mir leid, dass ich Ihnen einen Schreck eingejagt habe. Ich wollte nur den Fernseher anmachen.«
»Schon okay.« Die Aufregung war großer Erleichterung gewichen, als herauskam, dass Simon den Notruf aus Versehen aktiviert hatte. Nachdem Picasso sich vergewissert hatte, dass mit dem Kind alles in Ordnung
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