Das Kind
war, hatte er ihn mit dem nervösen Anwalt allein gelassen.
»Carina mag Sie«, eröffnete Simon. »Und ich mag Carina. Also kann ich Sie wohl auch gut leiden.« Der Junge zog seine Knie an und baute mit seinen Beinen ein umgedrehtes V unter der Bettdecke. »Hat sie heute frei?« »Ähh, nein. Das heißt, ich weiß es nicht.« Stern zog etwas umständlich einen Stuhl an das einzige Bett des Zimmers heran und setzte sich. Simon fi el auf, dass er fast die gleichen Sachen wie vorgestern bei ihrem Treffen an der Fabrik trug. Offenbar hing der dunkle Anzug in mehreren Ausführungen bei ihm im Schrank.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte er.
»Wieso?«
»Carina würde sagen, Sie sehen aus wie ein Schluck Wasser in der Kurve.«
»Ich hab schlecht geschlafen.«
»Aber deshalb guckt man doch nicht so böse.« »Manchmal schon.«
»Ach, ich weiß, was Sie stört. Entschuldigung.« Simon griff in das Fach unter seinem Nachttisch und zog die Echthaarperücke hervor. »Haben Sie vorgestern gar nicht bemerkt, was? Das sind ja auch meine eigenen. Sie haben sie mir abgeschnitten, bevor Professor Müller mit dem Tintenkiller begann.«
»Tintenkiller?«
Mit geübtem Griff setzte sich Simon seine Perücke auf und bedeckte damit den weichen Flaum auf seinem Kopf. »Ja, sie behandeln mich manchmal wie ein Kleinkind hier drinnen. Ich weiß natürlich, was eine Chemotherapie ist, aber der Chefarzt hat es mir wie einem Baby erklärt. Er sagte, in meinem Kopf ist ein großer dunkler Fleck, und die Tabletten, die ich schlucke, würden diesen Fleck ausradieren. Wie ein Tintenkiller eben.«
Simon beobachtete, wie der Blick des Anwalts die Ablagefl ächen in der Nähe des Bettes absuchte. »Das Interferon nehme ich nicht mehr. Der Arzt meinte, es geht jetzt auch ohne. Aber Carina hat mir die Wahrheit gesagt.«
»Was denn?«
»Die Nebenwirkungen sind zu schlimm.« Simon grinste schwach, während er kurz seine Perücke anhob. »Sie können das Ding nicht auskillern, ohne mich selbst zu töten. Vor vier Wochen hatte ich sogar eine Lungenentzündung und musste auf die Intensivstation. Danach gab es keine Chemo und keine Bestrahlung mehr.«
»Das tut mir leid.«
»Mir nicht. Jetzt hab ich wenigstens kein Nasenbluten mehr, und die Übelkeit ist nur noch morgens.«
Simon setzte sich im Bett auf und klemmte sich ein Schlauchkissen hinter seinen Rücken. »Aber nun zu Ihnen«, sagte er und bemühte sich dabei, wie einer der Erwachsenen zu klingen, die er aus den Krimiserien im Fernsehen kannte. »Übernehmen Sie meinen Fall?«
Der Anwalt lachte und sah zum ersten Mal wie ein Mensch aus, den man gernhaben konnte.
»Ich weiß noch nicht.«
»Es ist nämlich so. Ich hab Angst, etwas Böses getan zu ha ben. Ich will nicht …«
… sterben, ohne zu wissen, ob ich wirklich Schuld habe, wollte er eigentlich sagen. Aber Erwachsene reagierten immer so komisch, wenn er vom Tod sprach. Sie wurden traurig und griffen ihm ins Gesicht oder wechselten ganz schnell das Thema. Simon redete nicht weiter, weil er glaubte, der Anwalt hatte ihn auch so verstanden.
»Ich bin gekommen, um dir ein paar Fragen zu stellen«, sagte der jetzt.
»Schießen Sie los.«
»Nun, ich würde gerne genau wissen, was du an deinem Geburtstag so alles gemacht hast.«
»Sie meinen die Rückführung bei Dr. Tiefensee?« »Ja, genau.« Der Strafverteidiger schlug ein ledergebundenes Büchlein auf und machte sich mit einem kleinen Kugelschreiber Notizen.
»Ich möchte alles darüber erfahren. Was du dort erlebt hast und was du sonst noch alles über die Leiche weißt.« »Welche Leiche?« Simon hörte auf zu grinsen, als sich die Bestürzung auf dem Gesichtsausdruck von Robert Stern abzeichnete.
»Na, der Mann, den wir gefunden haben. Den du mit der, ähh …«
»Ach so, Sie meinen den Kerl, den ich mit der Axt er schlagen habe«, sagte Simon, erleichtert über das aufgeklärte Missverständnis. Nur sein Anwalt schien immer noch etwas perplex zu sein. Also versuchte er, es ihm zu erklären, und schloss die Augen. So ging es am besten, wenn er sich auf die Stimmen in seinem Kopf konzentrieren wollte und auf die entsetzlichen Bilder, die nach jeder Bewusstlosigkeit deutlicher wurden.
Der mit einer Plastiktüte erstickte Mann in der Garage.
Das schreiende Kind auf der Herdplatte.
Das Blut an den Wänden des Wohnmobils.
Er ertrug die Szenen nur, weil sie so weit weg waren. Jahrzehnte entfernt.
Aus einem anderen Leben.
»Es gibt ja nicht nur eine Leiche«, sagte er leise und öffnete die Augen
Weitere Kostenlose Bücher